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Samstag, 24. August 2013

Wie alles begann ...



Dies ist meine ganz persönliche Seite über den Charakter Juri Adam aus der ARD-Soap Verbotene Liebe.
Juri ist gebürtiger Serbe, hat als kleiner Junge mitansehen müssen, wie seine Eltern von kroatischer Bürgermiliz erschossen wurden, ist dadurch traumatisiert und kann aus seinen Verlustängsten heraus keine Nähe zulassen. Deshalb ist er ein Einzelgänger, der sein Gefühlsleben total abschottet und bis zu seinem 35. Lebensjahr noch nie eine Beziehung hatte. Bis er Martha trifft ... die sein Leben auf den Kopf stellt ...
Über seine traumatische Vergangenheit erfährt man freilich erst nach und nach etwas, weil er auch dies tief in sich verschließt und sich weigert, sich damit auseinanderzusetzen.
Wohl ahnt man, daß er nicht der coole, selbstsichere Typ ist, als der er erscheinen möchte.

Juri spielte von Folge 4291 - ausgestrahlt am 30. Mai 2013 - bis Folge 4402 am 18. November 2013 in VL mit.
Seine Geschichte hat mich schon früh berührt, weil ich ahnte, daß er im Krieg Schreckliches erlebt haben mußte ... und führte dazu, daß ich am 13. August 2013 einen kurzen Einblick in Juris Inneres, seine Gefühle niederschrieb. Nie hätte ich mir träumen lassen, was aus diesem sogenannten Oneshot werden würde ...
"Inside" ist meine Fanfiction über Juri, beginnend mit eben jener Folge aus VL, in der er seinen ersten Auftritt hatte.
Der erste Teil der FF befaßt sich mit dem Inhalt der gesendeten Folgen, der zweite, längere Teil beinhaltet meine selbst erdachte Fortsetzung über Juris Leben mit seiner geliebten Martha in Berlin.
Die Hauptstory ist mit dem Epilog zuende, der irgendwo in 2040 spielt.
Doch zwischen dem letzten Kapitel, das am 18. Dezember 2016 endet und dem Epilog gibt es noch Juris Familientagebuch, das den Zeitraum Dezember 2016 bis Januar 2020 beinhaltet.


18.11.14 - Heute vor einem Jahr waren Juri & Martha das letzte Mal bei VL zu sehen.
Und heute endet "Inside".
Nach gut 15 Monaten und 232.213 Wörtern auf 499 A4 Seiten habe ich eben das letzte Kapitel sowie den Epilog veröffentlicht.
Es heißt, Abschied nehmen, denn Juris Familientagebuch wird nur ein kleiner Lückenfüller sein ...
31.12.14 - Auch Juris Tagebuch ist nun beendet.
Für mich ist es ein Abschied, der mich glücklich und traurig zur gleichen Zeit macht, denn Juris Geschichte zu schreiben, hat mir sehr viel bedeutet.
Aber es ist kein endgültiger Abschied - so ganz wird Juri mich sicher nie verlassen.





Die Inside-Story ist unterteilt in 13 Posts:
  1. der Oneshot
  2. die Kapitel zu den Folgen 4291 - 4310
  3. die Kapitel zu den Folgen 4311 - 4328
  4. die Kapitel zu den Folgen 4330 - 4349
  5. die Kapitel zu den Folgen 4352 - 4379
  6. die Kapitel zu den Folgen 4383 - 4402
  7. "Unser Neuanfang in Berlin", Teil 1 - Kapitel 1 - 15
  8. "Unser Neuanfang in Berlin", Teil 2 - Kapitel 16 - 27
  9. "Unser Neuanfang in Berlin", Teil 3 - Kapitel 28 - 38
10. "Unser Neuanfang in Berlin", Teil 4 - Kapitel 39 - 48
12. "Unser Neuanfang in Berlin", Teil 5 - Kapitel 49 - 53 / Epilog
13. Juris Familien-Tagebuch


An dieser Stelle DANKE !!! an Kristian Kiehling, der mit seiner großartigen Darstellung des Juri, vor allem seiner tief beeindruckenden Fähigkeit, Gefühle lediglich mit seiner Mimik rüberzubringen, diese Geschichte erst ermöglicht hat.
Ein ebenso großes Dankeschön auch an alle meine Leser, die "Inside" teilweise oder ganz begleitet und mir mit ihrer Anteilnahme und all dem vielen schönen Feedback eine unvergeßliche Freude gemacht haben!









Inside (Oneshot)

Sie macht mir Angst.
Kein Wort, nicht ein einziges ist gefallen … über meine Vergangenheit … darüber, wie …
Und doch weiß sie, wie es in mir aussieht.
Weiß, wann es mir beschissen geht, auch wenn ich mir nichts anmerken lasse.
Sie schaut einfach hinter meine Mauer.
Diese Mauer, die bisher so zuverlässig war. Stein für Stein. Undurchdringlich.
Doch ihre Blicke gehen hindurch wie ein heißes Messer durch die Butter.
Sie weiß, wie ich denke. Ohne daß ich mich je hätte erklären müssen. Sie weiß es einfach.
Es ist unheimlich.
Ich kann mich nicht dagegen wehren. Ihr aus dem Weg gehen, ja, das kann ich. Der Angst nachgeben.
Der Angst vor was?
Der Angst vor ihr und ihren Gefühlen für mich?
Der Angst vor meinen eigenen Gefühlen?
Der Angst vor den Konsequenzen, die Gefühle zuzulassen?
Der Angst, wieder jemanden zu verlieren, an dem mein Herz hängt?
Der Angst vor der Angst?

Ich mag sie.
Eine hübsche Frau. Mit schönen Augen und einem bezaubernden Lächeln.
Eine liebe Frau. Ehrlich und offen. Mit Sinn für Humor.
Eine süße Frau, an der alles stimmt.
Eine Frau, die mich ohne Worte versteht.
Eine Frau, die alles für mich tun würde.
Eine Frau, die mich liebt.

Ich will ihr nicht wehtun. Ich will sie nicht verlieren.
Doch beides wird geschehen, wenn ich meine Angst nicht überwinde.
Mehrere Male war es schon fast soweit. Ich wollte ihr sagen, daß sie mir viel bedeutet.
Doch dann packte mich wieder die Panik.
Und ich fiel zurück in meine gewohnte Rolle – den Coolen, Unnahbaren spielen.
Das kann ich gut, habe es zwanzig Jahre lang perfektioniert.
Niemanden an mich ranlassen. Wer keine Nähe zuläßt, kann nicht verletzt werden.
Aber wird auch keine Liebe spüren …

Ich mag sie. Ich fühle mich wohl in ihrer Nähe. Ich vertraue ihr.
Aber gegen die allgegenwärtige Angst komme ich nicht an. Sie führt ein Eigenleben, hat die Kontrolle über mich. Immer, wenn ich meine, ich habe sie überwunden, packt sie mich wieder, schleudert mich zurück in die Einsamkeit und Isolation.

Ich brauche sie. Niemand ist mir näher als sie. Ich möchte mich fallenlassen; ich weiß, sie wird mich halten.

Bitte hilf mir. Ich schaffe es alleine nicht.

Inside (4291 - 4310)





4291
Es hat mich aus Berlin nach Düsseldorf verschlagen.
Ich habe mich vertraglich LCL, einem großen, internationalen Modekonzern verpflichtet.
Wenn ich mit meinem eigenwilligen Stil bekannter werden will, brauche ich entweder Eigenkapital oder die Maschinerie eines großen Labels im Rücken.
Ersteres habe ich nicht.
So ganz gefällt es mir nicht, unter der Fahne dieses Schicki-Micki-Hauses zu arbeiten, die unter Mode was ganz anderes verstehen als ich.
Aber der Boß von dem Laden war so wild drauf, mich zu kriegen, daß ich mir vertraglich weitreichende Freiheiten zusichern lassen konnte.
Denn eines werde ich sicher nicht – mich verbiegen lassen.
Juri Adam bleibt Juri Adam. Anders. Unbeugsam.

Heute Abend soll ich präsentiert werden.
Keiner soll vorab was wissen, so will’s Ansgar von Lahnstein, der Boß hier, haben.
Mir soll’s recht sein, daß ich mich nicht schon vorab begaffen lassen muß.
Kurz vor der Show gehe ich nach unten.
Auf dem Treppenabsatz bleibe ich stehen, weil ein Stück unter mir eine Gestalt hockt.
Ich lege den Kopf schief, um sie näher zu betrachten und wie es scheint, ist es eine junge Frau in Unterwäsche.
Und jetzt fällt mir auch auf, daß im ganzen Foyer getuschelt und gelacht wird. Und so ziemlich alle die Frau anstarren.
Ich habe ja keine Ahnung, was passiert ist, aber die junge Frau sieht nicht so aus, als würde sie sich amüsieren.
Daß nicht ein einziger sich um sie kümmert, ihr hilft, ist typisch.
Sensationslüstern packen sie lieber ihre Handykameras aus.
Ich gehe die wenigen Stufen zu der Frau hinab, stelle mich vor sie und versuche, sie auf mich aufmerksam zu machen.
Sie hat den Blick zu Boden gerichtet und ich muß sie erst am Knie berühren, damit sie mich bemerkt.
Sie schaut mit Tränen in den Augen zu mir auf.
Ich lächele sie freundlich an.
Und frage sie, ob sie laufen kann. Sie schüttelt den Kopf.
Daß sie verletzt ist, glaube ich nicht. Es ist wahrscheinlich eine Art Schock.
Ich ziehe Jacke und Hemd aus und lege ihr letzteres um die Schultern.
Dann ziehe ich sie hoch, lege ihren Arm um meine Schultern und trage sie aus dem Blickfeld der Gaffer.

4292
Hinter einem dicken schwarzen Vorhang, der einen Teil des Foyers abteilt, setze ich sie ab.
Geht’s wieder?“, frage ich sie freundlich und ziehe ihr mein Hemd über den Schultern zurecht.
Sie nickt.
Länger kann ich mich nicht mit ihr befassen, aber obwohl sie nichts sagt, scheint sie okay zu sein.

*******

Dann geht die Show los.
Nachdem Ansgar von Dingens sein Sprüchlein abgelassen hat.
Lassen wir Mode sprechen, meint er.
Mit der klassischen Linie von LCL kann ich mich nicht identifizieren.
Sie ist elegant, schweineteuer.
Mehr nicht.
Sie sagt nichts aus, außer daß die Person, die sie trägt, genug Kohle hat.
Aber dann kommen meine Mädels.
Ja, das ist was ganz anderes.
Die meisten empfinden es als provokativ.
Aber ich will nicht provozieren.
Ich will nur etwas aussagen.
Meine Mode soll etwas aussagen.
Über die Einstellung ihrer Träger zu sich selbst, zu den Mitmenschen, der Umwelt.
Ich muß allerdings gestehen, die zwei sich küssenden Models schockieren wohl doch.
Provozieren.
Und ich kann nicht abstreiten, daß mir das gefällt.

Dann kündigt der Graf mich an.
Applaus brandet auf, während ich mir ein Mikro greife und mich ins Rampenlicht stelle.
Ich bin Juri Adam. Neuer Designer bei LCL.“
Ja, das ist alles. Mehr sage ich nicht.
Aber ich bin hier, um Mode zu kreieren, um meine Visionen umzusetzen, nicht um Sprüche zu klopfen und dabei von all diesen versnobten Wichtigtuern begafft und getätschelt zu werden.
Deshalb läßt der Rest der Show mich kalt.
Es dauert nicht lange, bis mich eins der Models anspricht.
Und es dauert ebenfalls nicht lange, bis wir warm genug miteinander geworden sind, um den Rest des Abends gemeinsam zu verbringen. Bei ihr.

*******

Als wir ins Taxi steigen wollen, sitzt da schon jemand drin.
Ach, du bist das.“, erkenne ich die junge Frau wieder. „Schickes Cape.“
Ich frage sie, ob sie auch in die Innenstadt fährt.
Seltsamerweise weiß sie das nicht. Aber vielleicht ist sie auch neu hier.
Ich frage sie, ob sie was dagegen hätte, wenn wir uns das Taxi teilen.
Hat sie nicht und so können Lana und ich einsteigen.
Auch neu in der Stadt?“, frage ich sie.
Sie nickt.
Dachte ich mir doch.
Arbeitest du auch bei LCL?“, versuche ich das Schweigen zu unterbrechen.
Ja. Ich nähe. Ja, ich bin Näherin. Bei LCL. Ja. Genau. … Also … eigentlich … es ist auch … nee ...“
Ja, nun? Soll ich mir alles zusammenraten?
Also … es klingt vielleicht lächerlich … also, ich mach das auch … designen … Mode … Sie wissen schon.“
Ich weiß nicht, warum sie mich siezt, aber immerhin kommen wir der Sache näher.
Dann sind wir ja Kollegen.“, meine ich.
Ja.“, sagt sie und blickt mir das erste Mal voll in die Augen. „Ich hab das studiert.“
Irgendwie ist sie drollig … auf eine Art schüchtern und auf andere so eifrig und engagiert.
Aber … wie macht man das?“
Was?“
Na, Designer sein. Also in Wirklichkeit. In der echten Welt. Ich meine, so daß die Leute sagen – 'Hey, wow! Das ist 'ne Designerin.' ... So. … Wissen Sie, was ich meine?“
Ja. Ja … ich weiß nicht. Ich glaube, du mußt einfach machen. Dich ausprobieren, Spaß haben. Und wenn du Glück hast, kommt irgendwann der Moment, wo die Leute plötzlich etwas sehen in dem, was du machst. Das ist ein wichtiger Moment, da mußt du sehr aufmerksam sein.“
Sie strahlt mich an und bedankt sich.
Sie plaudert noch munter weiter, aber ich höre nicht mehr wirklich hin.
Meine Begleiterin verwickelt mich in einen heißen Kuß und angesichts dessen, was ich heute noch so vorhabe, möchte ich sie gerne bei Laune halten.
Kurz darauf sind wir bei Lana zuhause angekommen.
Bevor ich aussteige, meine ich noch zu meiner Design-Kollegin: „Dieser Moment … den darfst du nicht verpassen. Sonst ist er vorbei.“
Ich weiß, das klang sicher nicht sehr ermutigend. Aber es stimmt … wenn man nicht merkt, wann die eigene Arbeit anderen etwas sagt, wird man ewig weitersuchen und nie ans Ziel kommen.

*******

Am nächsten Tag bin ich draußen unterwegs, Ideen, Anregungen, Inspirationen sammeln.
So arbeite ich.
Ich lasse meine Umwelt zu mir sprechen, die Natur, die Menschen, einfach alles.
Ich brauche frische Luft und Bewegung.
Permanent eingesperrt in vier Wände würde ich bekloppt werden, da brächte ich nichts zustande.
Skizzieren, weiter ausarbeiten, das kann ich auch am Zeichentisch, ja.
Aber meine Ideen müssen in der Freiheit geboren werden.
Wenn man meine Kreativität einsperrt, geht sie ein.

*******

Bei LCL zeigt mir Ansgar von Lahnstein mein Büro.
Ich weiß zwar nicht, was ich mit damit soll, aber ist nett.
Dann erscheint auch Tanja von Lahnstein, eine kühle Blondine mit Giftzähnen und Stacheldraht auf der Zunge.
Aber ich bin kein verschrecktes Mäuschen, das unter ihrem Blick erstarrt.
Und so ist es mir wurscht, daß ihr mein spätes Erscheinen nicht paßt.
Ich biete ihr die Faust zum Gruß, aber sie mißbilligt die Geste anscheinend.
Auf 'nen Handkuß oder 'ne Verbeugung habe ich meinerseits aber keine Lust.
Während ich sie reden lasse, grinse ich Rebecca von Lahnstein zu. Sie ist die Designerin für die klassische Linie bei LCL. Sie grinst aber nicht zurück.
Gott, sind die alle steif.
Der blonde Eisberg rasselt irgendwelches Zeugs runter von wegen Kernarbeitszeiten, Bericht erstatten, Arbeitsschritte protokollieren und so weiter.
Da bin ich ja froh, daß das für mich nicht gilt.“
Doch, das tut es.“
Irrtum.
Lesen Sie meinen Vertrag.“, lache ich ihr zu.
Ich weiß nicht, ob sie nur unwissend tut oder ob der Herr Graf seiner Geschäftsführerin nichts gesagt hat.
Ich durchschaue das Verhältnis der beiden zueinander nicht so ganz, aber es macht den Eindruck, als würden sie sich gerne gegenseitig den Hals umdrehen.
Dieser Ansgar von Lahnstein scheint zumindest begriffen zu haben, daß es schlecht für sein Geschäft wäre, mich in irgendwelche Formen pressen zu wollen. Ich halte ihn zwar für einen windigen Hund, aber wenn er mich in Ruhe läßt, kommen wir klar.
Tschuldigung, weiß jemand, wo die Design-Abteilung ist? Ich hab 'n Meeting.“, unterbreche ich die kleine Fehde.
Rebecca bietet sich an, mich zu führen.

*******

Dann stehe ich vor meinen Mitarbeitern.
Ich bin Juri Adam. Und ihr seid meine Arbeitssklaven.“
Ich ernte verdutze Gesichter.
Ach, Hierarchien … scheiß ich drauf.“, mache ich klar, daß ich uns alle auf Augenhöhe sehe.
Also, ich denke, jede Idee verdient ihre Chance, das heißt, ich will, daß ihr mutig seid, solange ich hier bin. Traut euch was!“
Meine junge Design-Kollegin ist auch da. Mir fällt wieder ein, daß sie hier als Näherin arbeitet.
Als ich mich nach meiner kleinen Rede abwenden will, stakst so‘n ganz junges Ding auf mich zu, mit gewagtem Hüftschwung und klimpernden Wimpern.
Viel zu deutlich weist sie darauf hin, daß sie die Tochter des Grafen ist.
Falls sie meint, mich damit irgendwie beeindrucken zu können, ist sie an der falschen Adresse.
Sie bietet sich mir mit kokettem Augenaufschlag als Assistentin an.
Während ich noch überlege, ob ich sie auslachen soll, werde ich unterbrochen.
Meine junge Kollegin von gestern ruft laut dazwischen „Nimm mich!“.
Ich denke, mein Gesicht war sehenswert. Man kann mich nicht leicht verblüffen, aber sie hat’s geschafft.

4293
Natürlich starren auch alle anderen sie an und es ist nicht zu übersehen, daß sie gerne im Boden versinken würde.
Ich kann mir das Grinsen nicht verkneifen.
Zu Rebecca gewandt meine ich „Sind die alle hier so motiviert?“
Ja. Wir arbeiten daran. Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist ein Teil der LCL-Firmen-Philosophie.“
Keine schlechte Antwort.
Ich fühle mich zwar keinesfalls belästigt, sondern vielmehr belustigt, aber so einen Spruch hätte ich der Gräfin gar nicht zugetraut.
Wer zeigt mir jetzt bitte den Fundus?“, will ich wissen.
Eine junge Frau bittet mich, ihr zu folgen.
Im Vorbeigehen werfe ich meiner übereifrigen Kollegin einen Blick zu, aber sie schaut nicht auf.
Schade, daß ich nicht dazu komme, ihr zu sagen, sie soll's nicht so schwer nehmen – jeder hat das Recht, sich mal so richtig zu blamieren.

*******

Eine Weile später komme ich in mein schniekes Büro und das erste, was ich sehe, ist ein Hinterteil, das sich mir entgegenstreckt.
Irgendwer kraucht da unter meinem Tisch rum und sammelt verstreute Papier ein.
Ganz unbekannt kommt mir die Person nicht vor.
Aber was zum Geier macht sie unter meinem Tisch?
Als sie mich erblickt, wie ich da stehe, in der Tat ein wenig fassungslos, scheint sie regelrecht entsetzt zu sein.
Okay, das ist jetzt wirklich schon das dritte Mal, daß ich sie in einer für sie unvorteilhaften Situation erwische und das alles in nicht mal vierundzwanzig Stunden.
Hi … äh … du … ich, äh … Sie wundern sich wahrscheinlich, wieso ich hier unter Ihrem Tisch krabbele ...“
Das tue ich in der Tat. Und ich bin sehr gespannt, was jetzt kommt.
Ich habe … etwas … verloren. Heute zur Abwechslung mal nicht mein Kleid.“, lacht sie.
Ich habe nicht den Eindruck, daß sie es selber komisch findet.
Ihr Lachen klingt auch nicht natürlich.
Ich … äh … bin dann mal weg.“, versucht sie mir zu entkommen.
Ich blicke auf die Mappe mit den Papieren in ihren Händen.
Kann ich das mal sehen?“
Hm?“
Kann ich das mal sehen?“, wiederhole ich meine Frage mit mehr Nachdruck.
Das? Also … das ist gar nicht … also ...“
Hör doch mal mit dem Rumgestammel auf.
Ich versuche die Mappe an mich zu nehmen, aber sie hält sie eisern fest.
Lassen Sie los!“, verlangt sie.
Also bitte.
Doch als ich loslasse, verliert sie das Gleichgewicht, die Blätter segeln in hohem Bogen davon und sie landet auf dem Arsch. Und knallt auch noch mit dem Hinterstübchen auf.
Was macht diese Frau bloß immer für Sachen?
Passiert dir sowas öfter?“
Sie reibt sich den Hinterkopf und meint „Nee.“.
Ich ziehe die Brauen hoch. Das soll ich jetzt glauben?
Während sie sich aufrappelt, hole ich ihr einen Eisbeutel.

*******

Bist du sicher, daß du keinen Arzt brauchst?“
Nein, danke.“
Okay.“
Sie ist schon halb auf dem Weg zur Tür, als sie noch einmal kehrtmacht.
Also, das mit der Bewerbungsmappe … ich wollt' Ihnen die schon zeigen. Wirklich.“
Hör auf, mich zu siezen, okay?“
Soviel älter bin ich nicht und überhaupt habe ich doch klargemacht, daß ich auf Hierarchien und sowas nichts gebe.
Ja. Sorry. … Ich wollte sie dir … schon zeigen. Persönlich. Und deshalb hab ich sie dir weggenommen. Aber, ich dachte ja, unsere bisherigen zwei … drei Zusammentreffen, die sind nicht so glücklich gelaufen. Also dachte ich, da aller guten Dinge drei sind …“
Ich lasse sie reden und sehe mir nebenher die Bilder an, die ich draußen gemacht habe.
Und … was ich Ihnen sagen möchte ...“
Ich weiß nicht, ob es die Sprechpause, das „Sie“ oder der veränderte Tonfall ist, der mich sie wieder anblicken läßt.
Sie legt mir ihre Mappe hin, blickt mir lächelnd in die Augen und meint: „Ich glaube, ich wäre eine erstklassige Design-Assistentin.“
Ja, schon möglich. Solange diese seltsamen Unfälle nur ihr und nicht den Entwürfen passieren. Hast du eigentlich eine gute Unfallversicherung, Mädchen?
Ich habe die besten Zeugnisse und in meinem Abschlußjahrgang war ich die Beste.“
Als mir klar wird, worauf das Gespräch hinausläuft, widme ich mich wieder meinen Fotos.
Das freut mich für dich. … Ich brauch keine Assistentin.“
Obwohl ich sie nicht ansehe, weiß ich, daß ihr Lächeln Enttäuschung gewichen ist.
Warum muß sie auch gerade mich fragen?
Oh nein! Ich hab's versemmelt. Ich bin zu spät … Kim ...“
Du verstehst mich nicht.“, unterbreche ich sie. „Ich brauche keine Assistentin, ich arbeite allein.“
Immer?“
Immer.“
Ach ... das ist … ja … danke für's Gespräch.“
Ja.“
Sie geht. Und ich bemerke, daß sie ihre Mappe vergessen hat.
Warte!“, rufe ich ihr nach.
Erwartungsvoll kommt sie auf mich zu.
Die brauchst du sicher noch, oder?“
Mir ist klar, sie ist sehr enttäuscht, aber das kann ich nicht ändern.

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Ich glaube, LCL tut sich schwer mit mir. Die haben hier so eine unflexible, eingefahrene Art, daß ich mich frage, wie man hier überhaupt kreativ sein kann.
Ich komm da rein, sag 'Morgen! - ja, ich weiß, es ist nicht morgens, na und? - und was kommt prompt von der Gräfin zurück – daß es halb fünf sei. In einem so mißbilligenden Tonfall, daß der Rüffel nicht zu überhören ist. Ist mir aber scheißegal. Ich arbeite, wann ich am besten arbeiten kann.
Wenn sie ihre besten Ideen von neun bis fünf hier an ihrem Tisch hat – schön für sie.
Ich kann so nicht arbeiten. Und zum Glück muß ich das auch nicht.
Ich setze mir den Kopfhörer auf und kann mich so auch in diesem Irrenhaus fallenlassen.
Sollen die sich doch durch die ganzen Zwänge stressen lassen … ich lausche der Musik und bin schnell ganz entspannt, kann mich auf meine draußen gesammelten Inspirationen konzentrieren.

*******

Ich treffe Rebecca auf der Treppe nach unten.
Kann ich was für dich tun?“
Sie ist der Meinung, sie müsse etwas für mich tun.
Ich schnüffle an ihr und irritiere sie damit ziemlich.
Schlechtes Gewissen.“
Ich? Wieso?“, will sie wissen.
Bist doch gar nicht so, oder?“
Wie denn?“
So unentspannt.“
Also, ich bin sowas von entspannt.“
Okay.“ Ich glaub' ihr kein Wort.
Sie fragt mich, ob wir einen Kaffee trinken sollen, ich hätte doch bestimmt tausend Fragen zu den Abläufen hier.
Hab ich nicht, aber Kaffeetrinken ist trotzdem 'ne gute Idee.
Nur das jetzt zu tun, scheint ihr nicht zu passen.
Ich sehe sie an und kapiere.
Okay, deine Entwürfe. Du hast 'nen Termin bei Tanja von Lahnstein und mußt die Entwürfe präsentieren, sie macht Druck – ich weiß, wie das ist. … Hast du Panik?“
Ich hab keine Panik. Und meine Entwürfe haben genau das, was sie brauchen. Und ja, ich bin so entspannt, mit dir 'nen Kaffee trinken zu gehen.“
Okay.“
Ich glaube ihr immer noch kein Wort, aber der Kaffeeplausch könnte interessant werden.

*******

Kurz darauf sitzen wir in einem Etablissement namens No Limits.
Rebecca will abstimmen, diskutieren, über Farbkonzepte reden.
Ich weiß nicht, was das soll.
Auch sie sieht mich verständnislos an.
Es scheint, als würden wir verschiedene Sprachen sprechen.
Meine Mode soll etwas aussagen, eine Botschaft rüberbringen.
Rebeccas anscheinend nur hübsch und gefällig aussehen.
Als sie davon anfängt, daß mein Kleid mit der Botschaft ja auch gemacht werden müsse und von den Abläufen, dem komplizierten Apparat und den hunderten von Mitarbeiten erzählt, durchschaue ich sie.
Du denkst, die Modepresse hat mich vollkommen übertrieben gehalten, jetzt bin ich bei LCL, weiß überhaupt nicht, wo der Hase langläuft und du mußt mir alles erklären.“
Ich erkläre ihr, daß ich ihr nichts wegnehmen will. Sie macht ihre Linie und ich meine. Das muß doch kein gegenseitiges Ausstechen werden.
Leider komme ich nicht an sie ran. Sie blockt ab und will gehen.
Das ist schade, denn sie ist eine junge, engagierte, talentierte Frau und daß sie sich so von diesen ganzen Regeln, Normen und Zwängen einengen läßt, ist bedauerlich.
Während sie auf dem Weg zur Tür ist, fällt mein Blick auf den Tisch-Kicker und ich starte noch einen Versuch, sie dazu zu bringen, mal ein bisschen lockerzulassen.
Kickern?“, fragt sie, als hätte ich sie zu einem Ausflug zum Mond eingeladen.
Oder bist du eine von diesen Kreativen, die keinen Spaß haben können?“
Ich hab früher fast jedes Turnier gewonnen.“
Früher? Als du noch jung und wild warst?“
Ich stichele absichtlich, um sie aus der Reserve zu locken.
Ich bin immer noch … ja, laß uns kickern.“
Das ist ein Spiel und kein Duell.“, meine ich vorsorglich, als ich ihren verbissenen Ausdruck bemerke.
Ich habe Spaß, aber ich glaube, sie nicht.
Als ihre Freundin dazukommt, frage ich sie, ob sie mitspielen will. Vielleicht kann sie Rebecca ja dazu bringen, sich endlich zu entspannen.
Rebeccas Freundin motiviert noch einen Mitspieler und ich finde Rebecca nun als meine Teampartnerin wieder.
Sie macht mir gleich klar, was ich nicht darf, weil's ja gegen die Regeln wäre.
Und es kommt, wie es kommen mußte - wir spielen noch keine zwei Minuten und schon macht sie mich dumm von der Seite an.
Selbst unser Mitspieler mahnt sie, sie möge doch mal locker bleiben.
Aber Rebecca hat sich hochgeschaukelt.
Und dann geht es los … ich hätte bisher einfach nur Glück gehabt, die Presse hätte mich hochgepusht, aber bei LCL sei eine ganz andere Professionalität gefragt.
Ja, du hast Recht: Ich halte dich für 'nen Amateur.“
Und damit rauscht sie davon.
Ich blicke ihr verdutzt hinterher.
Ich verstehe einfach nicht, wo ihr Problem liegt.
Bin ich hier in einen Wettbewerb auf Leben und Tod geraten und weiß nichts davon?

*******

Ein wenig später bei LCL.
Ich zeichne einen neuen Entwurf, als Rebecca zu mir kommt.
Hey! Vorhin beim Kickern … entschuldige, ich war da ...“
Ich mache eine wegwischende Handbewegung. „Gefühlsausbruch.“
Sowas kann vorkommen. Künstler sind impulsiv, was raus muß, muß raus.
Besser, als wenn sie ihren Ärger in sich reinfrißt.
Und ich bin nicht so empfindlich.
Ja, ich war da wütend, mir ist das einfach so rausgerutscht.“
No worry, alles easy.“
Nein, es ist eben nicht alles easy. Weißt du, es geht hier nicht nur um uns und unsere Eitelkeiten. Es hängen viele Arbeitsplätze von unserem Können und unserer Zuverlässigkeit ab.“
Ich respektier' deine Arbeit auch.“, sage ich und nicke ihr zu.
Ich glaube kaum, daß sie mich wirklich verstanden hat.
Ein jeder soll den anderen so arbeiten lassen, wie der am besten kann.
Das schließt eine harmonische Zusammenarbeit nicht aus.
Und dann kommen die guten Ergebnisse schon, welche die Arbeitsplätze sichern.
Aber wenn ich mich in Schablonen zwängen muß, taugt meine Arbeit nichts mehr und dann …
Und was du vorhin gesagt hast … es ist ein Spiel und kein Duell … es ist eins … und ich werde gewinnen.“
Sie lächelt siegessicher und geht.
Ich lasse sie in ihrem Glauben.

Eine Weile später bekomme ich mit, wie Tanja von Lahnstein ihre Entwürfe runtermacht und sie zwingt, von vorne anzufangen.
Manchmal gewinnt man, manchmal verliert man.“, kann ich mir nicht verkneifen zu sagen.
So fies bin ich sonst eher nicht, aber nach dem, was sie mir heute reingehauen hat …

4295
Am nächsten Tag ist es auch nicht besser.
Erst treffe ich Graf Ansgar auf dem Klo und er quatscht mich auf meine Kollektion an.
Ich hab ein gutes Gefühl.“
Mein gutes Gefühl reicht ihm aber nicht.
Ich kann Ihnen die Entwürfe zeigen, wenn sie fertig sind.“
Aber die interessieren den Typ gar nicht.
Für ihn zählt nur die Kohle, die ich ihm einbringe.
Ja und dann taucht plötzlich Rebecca auf, die unser kleines Gespräch offenbar mitbekommen hat.
Und macht mir, obwohl sie mich nicht persönlich anspricht, eine eindeutige Kampfansage.
Offenbar ermutigt es sie, daß ich scheinbar noch nichts Konkretes vorzuweisen habe.

*******

Kurz darauf sehe ich sie an ihrem Arbeitstisch stehen.
Ich stelle mich neben sie, als sie gerade mit meiner unfallträchtigen Kollegin redet und sie schaut mich gleich mißtrauisch an.
Hast du Angst, ich klau dir Ideen?“
Du, ich hab keine Ahnung, was du machst.“, meint sie unfreundlich.
Neuer Ansatz?“
Hat's dir gefallen, wie Tanja meine Entwürfe in der Luft zerrissen hat?“
Nee, so bin ich dann auch nicht drauf.
Also wenn ich dir auch mal 'nen Tipp geben darf – zieh's dir nicht so rein.“
Ihrem Blick sehe ich an, daß sie mir nicht glaubt, daß ich auf ihrer Seite stehe.
Ey, ich bin kein Arschloch. Zumindest glaube ich, daß ich kein Arschloch bin.“
Endlich nimmt sie mein Friedensangebot an.
Hey, ich bin grad auf dem Weg nach draußen, Ideen sammeln. Willst du mitkommen?“
Nein, ich … bleibe hier. Ich finde hier meine Inspiration. Danke.“
Okay. Viel Glück.“ Ich lasse ihr eine Walnuß da. Nüsse sind gut für's Oberstübchen.
Sie läßt sich dazu hinreißen, mir „Dir auch.“ nachzurufen.
Immerhin.

*******

Ah, die frische Luft tut gut.
Hier draußen kann mein kreativer Geist richtig atmen.
Und es ist ein guter Tag, die Sonne scheint und die inspirierenden Motive scheinen mir nur so vor die Linse zu springen.
Ob Rebecca an ihrem Zeichentisch unter dem künstlichen Licht sich heute auch so inspiriert fühlt, so voller Ideen?

Auf dem Weg zurück hole ich mir einen Muffin und nehme auch Rebecca einen mit.
Ich frage sie, wie es bei ihr gelaufen ist.
Sie meint, sie hätte den totalen Durchbruch gehabt, was ich ihr aber nicht glaube.
Kreative Menschen brennen sehr schnell aus.“
Und dagegen hilft 'n Muffin?“
Muffins sind gute Freunde.“
Okay.“ Sie kann sich ein Grinsen nun doch nicht verkneifen und greift zu.
Es tut mir leid, wie das in der letzten Zeit mit uns gelaufen ist. Aber ich glaub, ich hab was kapiert – möglicherweise führt unser Duell dazu, daß wir beide das Beste aus uns herausholen.“
Du meinst, durch … Reibung wird Energie erzeugt, oder so?“
Ja, Und hoffentlich Mode, die die Welt verzaubert. … Was inspiriert dich eigentlich am meisten?“
Stille.“
Ich glaube nicht, daß sie versteht, was ich meine.
Die Stille in einem selbst.

*******

Eine Weile später werde ich unsanft aus eben dieser Stille gerissen.
Graf Ansgar hält uns eine kleine unfreundliche Ansprache.
Darüber, in wieviel Tagen die nächste Präsentation sei und wieviel Umsatz er mindestens erwarte. Anderenfalls er über neue, kreativere Köpfe nachdenken müßte.
Sein Gelaber geht mir echt am Arsch vorbei.
Rebecca jedoch meint: „Ich weiß nicht, warum … aber unter Druck, da arbeite ich noch besser.“
Warum wundert mich das nicht?“
Weißt du, ob in dreiundvierzig oder in siebzehn Tagen … alles was ich möchte, ist, die beste Kollektion meines Lebens abliefern und nicht für Ansgar von Lahnstein oder irgendwelche Umsätze … sondern für mich.“
Wir sind gar nicht so unterschiedlich.“, sage ich und lächle ihr zu. Und sie lächelt zurück.

4296
Magda bringt mir mein Hemd.
Hier, gewaschen und gebügelt. Hast bestimmt schon gedacht, ich will's behalten.“
Ehrlich gesagt, hab ich es völlig vergessen.
Ich sage nichts, lächle sie nur an.
Das war ein Scherz.“
Schon klar. Aber ich bin mitten in der Arbeit. Da lasse ich mich ungern ablenken.
Danke, ehm, Magda.“
Martha.“
Hm?“
Sie bietet mir ihre Hilfe an; wenn ich was zu bügeln hätte oder so.
Ich nicke ihr nur zu – sieht sie eigentlich nicht, daß ich beschäftigt bin?
Ich bin mit dem Kopf ganz woanders.
Schöner Knopf.“, meint sie und ich merke, daß sie auf mein Handy schielt, mit dem ich eben einen Knopf fotografiert habe, der mich anspricht.
Ich greife mir das Handy, betrachte den Knopf; Magda habe ich völlig vergessen.
Als ich wieder hochschaue, ist sie weg.

*******

Ich habe zwei Knöpfe, die mir beide gefallen und zwischen denen ich mich einfach nicht entscheiden kann.
Ich brauche die Meinung einer Frau und beschließe, mit meinem Knopfproblem zu Magda zu gehen.
Das ist eine sehr schmerzhafte Erfahrung, denn ich stehe noch nicht ganz neben ihr, als sie mir ein Bügeleisen auf den Fuß schmeißt.
Statt sie um Rat zu fragen, hopse ich erstmal mit schmerzhaft verzogenem Gesicht auf einem Bein herum.
Diese Frau ist echt ein Unglückswurm.
Sie ist entsetzt und rennt gleich los, einen Eisbeutel holen.
Anscheinend können wir uns in dessen Gebrauch abwechseln.
Ich humple zu ihrem Stuhl und lasse mich nieder, während sie sich entschuldigt.
Ey, ich kenn dich seit drei Tagen und dir passiert ein Ding nach dem anderen. Brauchst du 'nen Betreuer, oder …?“
Das passiert mir eigentlich gar nicht so oft.“
Ach was? Vier so Dinger innerhalb von zwei Tagen ist also bei dir nicht oft? Na ja … wenn du meinst …
Aber über ihre merkwürdige Neigung zu Kalamitäten will ich jetzt nicht reden.
Ich bin ja wegen meinem Knopfproblem hier.
Ich brauch deine Meinung. Der oder der?“, sage ich und halte ihr die beiden Knöpfe hin.
Zum Antworten kommt sie erstmal nicht, weil was anderes kommt – die Pizza, die sie bestellt hat.
Ich nehme den Karton und räume ihn beiseite, weil mich im Moment nur die Knöpfe interessieren.
Na ja, Knöpfe sind ja sehr verschieden. Also … sind sie sichtbar am Kragen oder im Schritt oder willst du ...“
Ich halte die Knöpfe an ihren Körper, um zu sehen, wie sie da wirken.
„ … sie nur als Zierde … oder haben sie eine Funktion?“
Magdas Stimme wird immer dünner. Was hat sie denn?
Man macht ihn zu und zieht sich an. Man macht ihn auf und zieht sich aus.“
So einfach ist das mit Knöpfen.
Der da!“, meint sie hektisch und zeigt auf den oberen der beiden Knöpfe.
Ich sehe sie an und verstehe echt nicht, was mit ihr los ist.
Aber sie hat eine gute Wahl getroffen.
Zufrieden lächle ich ihr zu und biete ihr großzügig ihre eigene Pizza an, während ich mir gleichzeitig auch ein Stück greife.
Mmmh.“ Ich bin zufrieden und auch Magda lächelt und sieht wieder entspannt aus.

*******

Ich bin bis in den Abend bei LCL und arbeite.
Mir schwirrt so vieles gleichzeitig im Kopf herum, daß ich meine, mein Schädel muß jeden Augenblick explodieren.
Sicher mache ich den Eindruck einer Biene auf Speed, so wie ich hin und her schwirre, hier was hervorkrame, da was wegschubse, meinen Stuhl beiseite pfeffere und auf Außenstehende ganz sicher wirke, als hätte ich keinen Plan, was ich machen soll.
Tatsächlich weiß ich das aber ganz genau. Nur fehlt was …
Mein Blick fällt auf Magda; ich hatte gar nicht bemerkt, daß sie auch noch da ist.
Magda? Komm mit ins Stofflager.“
Und bin schon dahin unterwegs.
Magda zeigt mir etliche Stoffe, aber es ist nicht das dabei, das ich suche.
Ich fluche mehr oder weniger dezent vor mich hin.
Und ziehe den Ausdruck eines Fotos aus der Hosentasche, um Magda zu zeigen, was ich suche.
Hier, das ist eine Wand. Schau sie dir an. Ich brauch genau so einen Stoff, der … der dieses Gefühl erzeugt.“
Na ja, Gefühle sind ja subjektiv. Jeder empfindet anders.“
Ich packe sie bei den Schultern, weil ich will, daß sie sich ganz auf die Sache einläßt.
Was fühlst du?“
Für einen Augenblick ist sie ganz starr. Aber dann läßt sie wieder locker.
Das ist rauh. Die Mauer hat schon viel gesehen.“
Aaaah, das ist der richtige Ansatz, das spüre ich.
Ich frage mich, was sie erzählen würde, wenn sie sprechen könnte.“
Braucht sie gar nicht, du hast mir schon geholfen.
Ich spurte los. Sicher wundert sie sich, aber Zeit für Erklärungen hab ich jetzt nicht.
Wenn ich eine Idee habe, muß sie raus.

Eine halbe Minute später bin ich wieder da.
Hier, das Foto ...“
Und zeige ihr ein Detailfoto der Mauer, auf dem sie zu sprechen scheint.
Magda überlegt.
Ich bin sehr ungeduldig und schubse sie Richtung Stoffe. „Na, komm!“
Nur zwei Sekunden später reicht sie mir einen Stoff, auf den meine Antennen sofort anspringen.
Ich greife gleich danach, für mich ist die Sache schon klar, als Magda noch scheu fragt „Das?“.
Verdammt! Das ist genial!“ … Begeistert sehe ich den Stoff an. „Scheiße.“, meine ich strahlend. Meine Art, mich zu freuen halt.
Danke, Magda!“, sage ich und bin schon halb zur Tür raus.
Martha!“, ruft sie mir nach, sie klingt ärgerlich.
Ich drehe mich rum. „Was?“
Ich heiße Martha.“
Ach soooo. Sie ist ärgerlich, weil ich sie die ganze Zeit falsch angeredet habe.
Martha? … Paßt auch viel besser.“, meine ich spontan.
Dann bin ich weg.

*******

Dank Martha habe ich ja, was ich brauche, kann mich eben frisch machen und bin pünktlich fertig für meine Verabredung.
Ich winke Martha zum Abschied zu und zeige ihr, daß ich mir ihren Namen endlich gemerkt habe.

4297
Ich bin recht früh bei LCL und bekomme mit, wie Rebecca Martha wegen irgendwas rüffelt.
Alles klar?“, frage ich.
Martha ist zu spät gekommen.“
Das geht schon in Ordnung.“
Ich steh jetzt auch nicht mit der Stoppuhr in der Tür, aber Martha sieht's ein, daß ich sie dringend zum Weiterarbeiten brauche.“
Sie hat gestern bis dreiundzwanzig Uhr für mich gearbeitet. Dachte, es ist okay, wenn sie 'n bisschen später kommt.“
Ich will auf keinen Fall, daß Martha meinetwegen Ärger bekommt.
Rebecca guckt sauer aus der Wäsche.
Tschuldigung. Hab's vergessen, dir zu sagen.“
Kein Problem.“, meint sie, aber ich habe das dumme Gefühl, daß ich ihr ständiges Problem bin.

*******

Tabea ist da, eins der Models. Ich will meine neueste Kreation an ihr sehen. Letzte Nacht hatte ich den Eindruck, ihr Körper und der Stoff könnten ganz gut harmonieren.
Ich gehe zu Martha, will sie fragen, ob sie das Kleid an ihr abstecken kann.
Lächelnd stehe ich im Türrahmen, sie ist so eifrig bei der Arbeit, daß sie mich gar nicht bemerkt.
Hast du Zeit oder bist du im Streß?“
Sie schaut hoch und starrt mich an, als wäre ich gerade vom Himmel herabgeschwebt.
Sie scheint mich gar nicht richtig wahrzunehmen.
Ich wiederhole meine Frage.
Und kann förmlich sehen, wie bei ihr der Film reißt.
Wo mag sie wohl gerade gewesen sein?
Ehm, was? … Jetzt … ehm ... nein. Also ja … ehm, ich mein, ich hab … Zeit und keinen Streß.“
Passend zu ihrem fahrigen Gestammel fuchtelt sie mit den Armen durch die Gegend und irgendwas landet mit einem Rums auf dem Boden.
Gut.“, meine ich mehr oder weniger geduldig, weil ich nicht verstehe, warum sie schon wieder so nervös und zappelig ist.
Geht's um den Stoff von gestern?“
Ich nicke nur. Kein weiteres Gestammel provozieren, sonst stehe ich heute Abend noch hier.
Okay. Was soll ich machen?“
Ich hab von dem Stoff ein paar Muster zugeschnitten. Ich will gern sehen, wie er fällt.“
Klar. Ich hol die Schneiderpuppe.“
Nein, nein. Ich, äh, brauche einen bewegten, lebenden Körper. … Ah, da ist sie ja. Steckst du den Stoff an Tabea ab? Danke.“

*******

Martha und Tabea scheinen fertig zu sein.
Aber schon aus der Entfernung kann ich sehen, daß zwischen den beiden dicke Luft herrscht.
Was ist hier los?“, will ich wissen.
Dieser Fettklops hat mich beim Abstecken gestochen. Mit voller Absicht. Tut immer noch höllisch weh.“
Das wäre natürlich ziemlich unprofessionell.
Mal sehen, was Martha dazu sagt. Kann mir gar nicht vorstellen, daß sie sowas macht.
Ich trete dicht vor sie und sehe ihr in die Augen.
War das Absicht?“
Sie schüttelt den Kopf.
Ich habe so meine Zweifel, aber ich will ihr glauben.
Sie ist eine Quasselstrippe, tollpatschig und sie schmeißt mit Bügeleisen um sich. Aber abgesehen davon ist sie lieb und hilfsbereit und hat ein gutes Gespür für meine Arbeit.
Gut. Danke für deine Arbeit.“, sage ich und für mich ist die Angelegenheit damit erledigt.
Aber leider nicht für Tabea.
Bitte?“
Ich kann natürlich auch noch weiter abstecken … also das Kleid … wenn's gewünscht ist.“
Dabei schaut Martha mich fragend an.
Wenn die noch einmal ihre Leberwurstfinger nach mir ausstreckt, ich schwöre, ich raste aus.“
Da platzt mir der Kragen.
Raus!“, sage ich scharf.
Martha bezieht das auf sich und entfernt sich geknickt.
Tabea triumphiert schon.
Ich nehme sie zwei Schritte beiseite.
Sowas will ich hier nicht noch mal hören.“
In meiner Gegenwart beleidigt niemand jemand anderen ungestraft wegen seines Aussehens, seiner sozialen Stellung oder was auch immer. Solche Überheblichkeit macht mich wütend.
Aber ...“
Nein, kein 'aber'.
Okayyyy. Dann verschwinde.“
Sie versteht nicht gleich, daß ich sie nicht mehr sehen will.
RAUS!!!“, brülle ich sie an, weil es mir jetzt echt reicht.

*******

Es ist mir unangenehm, daß Martha mich so erlebt hat.
Sie wirkt so unschuldig, glaubt sicher immer an das Gute im Menschen.
Ich bin aber nicht immer so gut.
Und ich will nicht, daß sie künftig einen großen Bogen um mich macht, weil sie mich für einen unberechenbaren Choleriker hält.
Deshalb gehe ich zu ihr.
Ängstlich sieht sie freilich nicht aus. Sie strahlt mich an. Klar, die Genugtuung, daß ich ihr und nicht Tabea geglaubt habe ...
Der Krach vorhin ... sorry.“
Ist schon vergessen.“
Ich hab mir gedacht, ich hol heute Abend noch mal so eine American Pizza mit extra Käse. Und dann könntest du den Stoff für mich noch mal an deiner Puppe abstecken.“
Sie strahlt erst und meint dann: „Ehm, ich kann nicht. Ich, äh, hab heut' schon was vor und die Karten sind echt schon seit über zwei Monaten haben wir die besorgt.“
Okay. Arbeit ist nicht das Wichtigste. … Viel Spaß!“ Ich zwinkere und winke ihr zum Abschied zu.
Sie hat's verdient, sich mal 'nen richtig schönen Abend zu machen und nicht immer bis spät hier abzuwarten, ob noch einer was für sie zu tun hat.

4301
Manchmal habe ich es schwer, mich verständlich zu machen. Meine Modelle sind nicht einfach nur Stoffstücke, zu einer gefälligen Form zusammengenäht.
Ich versuche, das einer der Mitarbeiterinnen klarzumachen.
Du knitterst und nichts passiert. Stoffe müssen leben.“
Wenn sie sich bewegt, muss der Stoff es auch tun. Nicht einfach nur unbeteiligt an ihr herunterhängen.
Während ich nebenbei was esse, komme ich am Näh- und Bügelzimmer vorbei, wo Martha sitzt.
Sie lutscht am Finger, sicher hat sie sich gepiekst.
Alles klar?“, frage ich.
Sie nickt.

*******

Nach der Arbeit gehe ich ins No Limits. Dort steigt heute irgendeine Party, das hab ich mitbekommen, als zwei der LCL-Models sich darüber unterhalten haben.
Ein wenig Spaß wäre nicht schlecht, das stimuliert meine Kreativität.
Lange aufhalten will ich mich nicht.
Nur bis ich eine gefunden habe, die nicht so viel redet, sich aber gut bewegen kann.
Eine Blonde namens Jessica erfüllt das erste Kriterium schon mal nicht.
Höflich höre ich eine Weile zu.
Martha ist auch da.
Ausgelassen tanzt sie mit irgendeinem Typen und macht keine schlechte Figur dabei.
Ich hab bis jetzt noch nie gesehen, daß sie so aus sich heraus geht.
Ich kenne sie nur nervös und tollpatschig.
So wirkt sie jetzt gar nicht.
Doch auf einmal …
Des Lärms der Musik wegen kann ich nicht hören, was los ist.
Sehen tue ich, daß der Typ und seine Freunde sich anscheinend über Martha lustig machen.
Und sie steht da, schockiert …
Bis sich plötzlich ihre Erstarrung löst, sie dem Vogel ein Glas Wasser ins Gesicht kippt und ein Foto von ihm macht.
Klasse, Martha!
Doch der Typ ist offenbar einer von der üblen Sorte, die keinen Respekt vor Frauen oder überhaupt den Mitmenschen gegenüber haben.
Er packt Martha grob am Arm, sagt was von „Du Opfer!“ oder so.
Und da sehe ich rot.
Gegen die Beleidigungen hat Martha sich ja noch gut selber wehren können, da brauchte sie meine Hilfe nicht.
Aber das jetzt geht zu weit – niemand wird sich in meiner Gegenwart ungestraft an einem Schwächeren vergreifen.
Ich packe mir das Arschloch an seiner Nase.
Du entschuldigst dich jetzt bei ihr.“
Laß mich los, du Spinner!“
Erst wenn du dich entschuldigst.
Ich warte.“
Denk ja nicht, daß ich nur Spaß mache.

4302
Zum letzten Mal – du entschuldigst dich bei ihr!“
Entschuldigung, aah, Entschuldigung!“
Ich hör nichts!“
Es … tut … mir … leid!“
Ich hole mir den Wichser nah vor's Gesicht. „Verschwinde, du Arschloch!“
Und schubse ihn von mir, er widert mich an.
Wortlos gehe ich durch die Menschenmenge hindurch, die sich inzwischen um uns versammelt hat.
Es ist mir egal, daß mich alle anstarren.

*******

Ich setze mich mit einer Flasche Wodka an einen Tisch und bin wütend auf mich. Weil ich die Kontrolle verloren habe.
Martha setzt sich irgendwann zu mir. Ich schenke ihr auch ein.
Sie bedankt sich. Das muß sie nicht.
Du warst vorhin so wütend … so aggressiv ...“
Klar, daß sie sich wundert, warum ich derart ausraste, überreagiere.
Das, was du grade gesehen hast von mir … ich wollte dir keine Angst machen.“
Mehr zu mir selbst sage ich: „Ich hasse diese Typen … diese verwöhnten Kinder, die denken, sie könnten mit anderen Menschen machen, was sie wollen. Die andere behandeln wie ein Stück Scheiße. Dabei sind sie selber 'n Stück Scheiße. … Und dafür hassen die sich … und dann machen die mit anderen, was sie wollen. … Machen andere zu Opfern. Nur damit sie sich selber besser fühlen. Ich hasse diese Typen!''
''Du, ich kenn das schon. Leute, die sich über mich lustig machen, das … das ist echt nicht schlimm.''
''Doch! Niemand hat das Recht, dich zu erniedrigen. Niemand!''
Sie sagt nichts.
Ich hoffe, daß sie sich meine Worte zu Herzen nimmt.
Typen so wie der da ...“, sage ich und winke mit dem Kopf zu dem kleinen Arschloch an der Bar hinüber, „sind schuld dran, daß ich keine Menschen mag. Wegen solchen Typen ... bin ich lieber allein.“
Ich lasse Martha Geld für ein Taxi da und gehe. Ich werde noch etwas arbeiten, das hilft mir, wieder runterzukommen.

*******

Anderentags, bei LCL, kommt sie zu mir. Bedankt sich noch mal bei mir.
Sie scheint nicht wirklich zu wissen, ob sie mein Verhalten gut finden oder ablehnen soll.
Ich habe grad nicht die Nerven für eine Diskussion über die Notwendigkeit von Gewalt.
Ich kann und möchte ihr nicht erklären, warum es mir zu schaffen macht, die Beherrschung verloren zu haben.
Kann ich jetzt weiter arbeiten?“, versuche ich ihr klarzumachen, daß ich nicht über die Sache reden möchte.

*******

Mein Blick fällt auf Martha; sie lächelt und winkt mir zu.
Sie hat ihr inneres Gleichgewicht schon wiedergefunden.
In mir sieht es anders aus.
Ich bekomme einfach den Kopf nicht frei für`s Arbeiten.
Ihre Worte lassen mir keine Ruhe.
Hätte ich es einfach so hinnehmen sollen, daß man sie demütigt?
Sie im Stich lassen?
Nein, das hätte ich nicht getan, niemals!
Ich muß hier raus, muß an die frische Luft!

*******

Als ich zurückkomme, steht sie an meinem Arbeitstisch und sieht sich meine Arbeit an.
Suchst du was?“
Sie versucht, sich zu erklären. Ich höre was von Schreibmaschine und habe keine Ahnung, was sie meint.
Ich versuche, mich zu konzentrieren. Und plötzlich platzt sie heraus, daß auf dem Board was fehlen würde, ein Stoff, ein Muster.
Ja, das stimmt.
Fühlt sich an, als würde ich unter Drogen in ein Kaleidoskop starren. … Farbe fehlt.“
Und … kannst du sie vielleicht beschreiben? Also … wie fühlt sich die Farbe an?“
"Lissabon im Regen … Lissabon im Regen.".

Eine Weile später ist sie plötzlich wieder da.
Kaffee, schwarz, zwei Stückchen Zucker.“
Etwas abwesend mache ich Platz für die Tasse.
Und ich hab noch was … “
Danke, kein Keks.“
Lissabon im Regen. Das Straßenpflaster im Schein einer alten Laterne. … So hab ich mir das vorgestellt.“
Und sie hält mir ein Stück Stoff unter die Nase … einen Stoff in genau der Art, wie ich ihn in meinem Kopf habe.
Ich greife mir das Stück, pinne es ans Bord und weiß sofort, das ist es!
Martha habe ich leider darüber völlig vergessen.
Nicht mal für ihre Hilfe bedankt hab ich mich.

4303
Es ist interessant, was man so über sich erfährt, wenn Leute meinen, sie seien unter sich.
Ich komme am Bügelzimmer vorbei, wo sich Rebecca gerade mit Nicole, einer der Büglerinnen, unterhält.
Juri kann doch nicht erwarten, daß alle gleich springen, nur weil er mal kurz 'nen kreativen Anfall kriegt. Der Typ marschiert hier rein und raus, weißt du, und läßt sich noch als großes Genie feiern, ja, als ob das ein besonderes Zeichen von Kreativität wäre, wenn man 'n bisschen Chaos anrichtet und sich nicht an Abmachungen hält. Weißt du, es kann ja sein, daß er bisher Dinge wie Teamgeist und Disziplin nicht gebraucht hat, aber in einer Firma wie LCL kann man doch ein bisschen Professionalität erwarten, oder?“
Nur weil man eine andere Art zu arbeiten, kreativ zu sein, nicht versteht, muß man sie nicht gleich runtermachen.
Leise betrete ich den Raum.
"Von dir lerne ich gerne Disziplin, Baby. ... Alles gut? Bist du im Streß?“
Sie versucht, sich nichts anmerken zu lassen. „Nö. Alles bestens.“
Heuchlerin.
Gut. Wir wollen ja nicht, daß du plötzlich … einen kreativen Anfall hast.“
Nun weiß sie, daß ich mehr mitbekommen habe, als ich sollte.

*******

Ich bin erstaunt, daß Rebecca sich schon kurz darauf mit einem Problem an mich wendet.
Ich hätte vermutet, daß sie für eine Weile einen Bogen um mich macht.
Aber ihr scheint das Wasser bis zum Hals zu stehen.
Es geht um Lotti Rotfeld, eine Mode-Journalistin.
Sie will wohl eine Fotostrecke machen, was für LCL eine tolle Publicity wäre.
Aber wenn ich Rebecca richtig verstehe, geht es ihr um das neue LCL, also die Symbiose von Rebeccas klassischer Linie mit meiner.
Das heißt, du bist der Meinung, wir beiden Hübschen sollten uns eine gemeinsame Strategie überlegen.“
Genau das meine ich.“
Okay. Ich bin mir sicher, in deinem schönen Köpfchen gibt es schon ganz viele Ideen.“
Nein. Weil es seit neuestem hier nicht um meine Ideen geht, sondern um unsere.“
Ich frage sie, was die PR-Abteilung dazu meint. Normal managen die sowas.
Rebecca meint, daß Tanja von Lahnstein hier die PR-Abteilung ist und die ist zur Zeit nicht da und niemand scheint zu wissen, wann sie wiederkommt.
Rebecca will sich der Frage stellen, was die beiden Linien verbindet.
Ich bin der Meinung, wir sollten feststellen, was sie unterscheidet und darauf aufbauen.
Und wo soll das hinführen?“, will sie wissen.
Zu 'ner Lösung.“
Rebecca muß natürlich widersprechen.
Auch wenn sich unsere Stile, unsere Linien unterschieden, wären doch beide LCL und diese Rotfeld würde erwarten, daß man ihr was präsentiert, was aus einem Guß ist.
Warum?“, frage ich, weil ich diese Notwendigkeit nicht sehe.
Das würde total auf der Hand liegen.
Und überhaupt habe ich keine Zeit und keine Lust, mir deine destruktive Sch... Philosophie da reinzuziehen.“
Okay. Das heißt, du brauchst mich gar nicht.“ Dieses Gespräch war wirklich reine Zeitverschwendung.
Ich schnappe mir meinen Krempel und lasse sie stehen.
Wo willst du hin?“
Ich gehe mich jetzt besaufen.“
Und das Shooting?“
Ich bin mir sicher, mit deinem Harmonieverständnis wirst du das schon hinkriegen.“
Ich hab echt die Schnauze voll.
Wenn ihr Verständnis von Teamgeist so aussieht, daß ich mich in allem nach ihrer Meinung richte, dann kann sie sich ihren Teamgeist sonst wohin stecken.
Du kannst doch jetzt nicht einfach ...“
Klar kann ich das. … Ich bin der destruktive Typ.“
Ich habe es nicht vergessen, Rebecca ...

*******

Natürlich habe ich mich nicht besoffen.
Noch liegt mir was an meinem Job.
Nur da raus mußte ich für eine Weile.
Als ich zurückkomme, bekomme ich mit, wie Rebecca gerade versucht, der Rotfeld Schloß Königsbrunn als Location für das Shooting schmackhaft zu machen. Doch die ist nicht begeistert.
Und ich werde Rebecca jetzt ihren Arsch retten, obwohl sie es an mir nicht verdient hat.
Ich platze dazwischen und meine, daß wir das schnarchlangweilige Konventionelle mit einem Kampf der Kulturen brechen werden.
Die Frage ist, wer kämpft hier gegen wen?“, will die Rotfeld wissen.
Prinzipien. Rebeccas Prinzip der klassischen Schönheit, die Eleganz, das Konservative gegen meins, das Gebrochene, das Diffuse, die Anarchie.“
Klingt das nicht ein bisschen sehr theoretisch?“
Kommt drauf an, was man draus macht.
Ich erkläre, was mir vorschwebt. Nämlich, das Schloß in ein Schlachtfeld zu verwandeln, auf dem die beiden Linien als Gut und Böse gegeneinander kämpfen.
Meine Models würden das Schloß stürmen.
Ja, aber sie werden mit großem Widerstand meiner Models rechnen müssen.“, meint Rebecca angriffslustig.
Natürlich.“ So soll es doch sein.
Und es ist noch nicht ausgemacht, wer gewinnen wird.“
Ach ja, das Duell zwischen uns.
Nein. Es wird ein brutaler und langer Kampf.“
Haute Couture war schon immer die Idee der Abgrenzung von oben nach unten.“
Ja, aber die Aristokratie ist schon lange tot. Das wissen die nur nicht, die in ihrem Schloß da oben. Die Grenzen sind weg, Mauern zerbröckeln. Auch bei LCL.“
Ob Rebecca wohl versteht, was ich meine?
Die Rotfeld will wissen, ob Tanja von Lahnstein das genauso sehen würde.
Tanja von Lahnstein war sich klar darüber, als sie mich geholt hat, daß ein riesiger Bruch entstehen würde.“
Ich verschweige, daß die eiskalte Gräfin ganz und gar nicht begeistert von mir ist.
Aber sie wäre nicht Tanja von Lahnstein, wenn sie diesen Bruch kaschieren wollen würde.“
Hm, scheint so, als würde Rebecca doch mitspielen.
Ganz im Gegenteil. Sie nimmt diesen Bruch und macht ihn zu einem Thema einer neuen Ästhetik bei LCL.“, klinke ich mich wieder ein.
Ja, es geht hier nicht um falsche Harmonie.“
Ganz genau.
Wo das nun klar ist, fliegen die Ideen, die Visionen nur so zwischen uns hin und her. Die Rotfeld haben wir für einen Moment völlig ausgeblendet.
Keine Bemühungen mehr um einen gemeinsamen Nenner, den es nicht gibt.
Sondern Kampf.
Aber fruchtbarer Kampf.
Die Rotfeld ist beeindruckter, als sie zugeben will.

4304
Nun, wo Rebecca und ich uns einig sind, uns zu bekämpfen, haben wir die Rotfeld im Sack.
Ihr gefällt der Kampf Avant Garde gegen Haute Couture.
Allerdings will sie die Fotos morgen Abend.
Rebecca würde sich eher die Zunge abbeißen, als zuzugeben, daß das ein Problem ist, da bin ich sicher.

*******

Ich schaue mir mit Rebecca das Schloß an.
Du, ich werde es aber nicht schaffen, bis morgen neue Entwürfe fertigzustellen.“, teilt sie mir ihre Sorge mit.
Keine Angst, ich nehm' auch nur Sachen von meinem Presseempfang.“, beruhige ich sie.
Als ich auf der Treppe stehe, die aus der Eingangshalle nach oben führt, habe ich die Idee, wie Rebeccas Models versuchen, das Schloß gegen meine anstürmenden Models zu verteidigen.
Ihr scheint die Idee zu gefallen. „Ja, doch, doch, ja, find ich gut. … Könnte sexy sein.“
Und ob das sexy aussehen wird!
Das Schloß ist echt eine tolle Kulisse für die Fotos.
Ich streune durch die Räume und als ich in einem Salon einen Billardtisch sehe, habe ich gleich ein geniales Foto vor Augen.
Was hältst du davon - eins deiner Models liegt hier gebondaged auf diesem Tisch und ...“
Ich lümmele mich lasziv auf den Tisch und versuche anzudeuten, was ich meine.
Doch Rebecca zieht mich eilig da runter und meint, dem Schloßherrn würde das gar nicht gefallen.
Na ja, es wird auch so gut werden.
Dann treffen wir die Hausherrin, Gräfin Elisabeth von Lahnstein und ihren Butler, welcher mich pikiert mustert. Ich versuche eine möglichst elegante Verbeugung vor der Gräfin, die mich eher erstaunt mustert.
Ich habe den Eindruck, daß Rebecca und ich sie mit unserem Fotoshooting irritieren, aber als adlige Dame bewahrt sie Contenance.

*******

Zurück bei LCL mache ich mich an die Arbeit.
Überlege mir, welche Modelle passend wären.
In meinem Kopf summt und brummt es wie in einem Bienenstock.
Die Gedanken schwirren wild umher, machen sich selbstständig.
Ich weiß, ich tue gut daran, sie zu lassen.
Aus diesem Chaos in meinem Hirn entsteht meist etwas Gutes.
Ich hole mir einen Kaffee, denn das wird noch ein langer Arbeitstag.
Auf der Treppe nach oben treffe ich Martha.
Ihren Redefluß kann ich jetzt, wo ich mich konzentrieren will, gar nicht gebrauchen.
Sag mal … ich geh gleich in den Fundus. Ich könnte deine Modelle mitbringen, wenn du möchtest?''
Ich weiß selber noch nicht, welche ich brauche.“
''Ich könnte aber eine Vorauswahl treffen.“
Ich bin schon halb die Treppe rauf. Angenervt wende ich mich ihr zu.
Nein, danke! Sag mal, hörst du mir eigentlich zu? Das würde alles in Unordnung bringen!“
Es ist ja lieb, daß sie mir unbedingt helfen will, aber sie scheint nicht zu begreifen, daß ich grade meine Ruhe brauche.
Es geht nicht gegen sie, aber in so einer Stimmung kapsele ich mich immer von meiner Umwelt ab, das ist eben so.
Sie soll mich solange einfach in Ruhe lassen, dann ist alles gut.
Als ich nach oben an meinen Arbeitsplatz komme, trifft mich fast der Schlag.
Der ist fast leer! Nichts ist da, wo es hingehört.
Das ganze kreative Chaos, das ich brauche, weg …
WER WAR DAS?“, brülle ich meinen Unmut durch's ganze Haus.
Rebecca amüsiert sich über mein entsetztes Gesicht.
Und ich erfahre, daß Martha das verbrochen hat.
Während ich mich bemühe, das Chaos auf meinem Tisch wiederherzustellen, will Rebecca mit mir über die Vorauswahl der Modelle reden. Doch dazu habe ich jetzt nicht die Nerven.
Ich sage ihr, sie soll einfach machen, ich würde mich dann nach ihr richten.

*******

Als Martha kommt, stelle ich sie zur Rede. Ich weiß, sie hat es gut gemeint, aber ich mag es nicht leiden, wenn man sich in welcher Form auch immer in meine Arbeit einmischt.
''Also wenn es um deinen Schreibtisch geht, ich hab nur ein bisschen Ordnung gemacht, weil er doch so zugemüllt … so überladen war. Weißt du, ich … ich dachte, daß wenn alles ein bisschen sortiert ist, daß du dann vielleicht dich besser konzentrieren kannst … du weißt schon 'Ordnung auf dem Schreibtisch, Ordnung im Kopf'.“
Ich bremse sie in ihrer Verteidigungsrede aus.
''Ich sag dir das jetzt nur einmal: Geh nie wieder an meine Sachen.''
Ich hab's nur gut gemeint.“
Das weiß ich.
Ich hab's kapiert. … Ich könnte dir vielleicht bei der Auswahl helfen. Ich such deine alten Modelle zusammen, ich sortier sie farblich oder thematisch. Damit du einen besseren Überblick bekommst, hm?“
Ich hatte einen wunderbaren Überblick, bevor du deine Finger hier reingesteckt hast.''
Deine Kleiderstange ist noch komplett leer. Ich werde nicht aufräumen, versprochen, aber ich will dir wirklich gerne helfen.“
Das glaube ich ihr sogar.
Aber im Moment bin ich durch ihre verdammte Aufräum-Aktion aus dem Konzept gebracht und ziemlich gereizt.
Besser, sie läßt mich jetzt einfach in Ruhe, ich krieg mich schon wieder ein.
Für heute hab ich Hilfe genug.“, sage ich und lasse sie stehen.

*******

Ich sitze im No Limits.
Inzwischen habe ich mich beruhigt und meine Gedanken fokussieren sich wieder auf die Auswahl meiner Modelle.
Zwischen die Bilder der Kleider mischt sich immer wieder etwas Anderes, Neues … ich verhindere es nicht.
Ich weiß ja, das aus diesem Gedankenchaos irgendwann was Brauchbares entsteht.
Ich beobachte Martha, die mit Rebeccas Assistentin Kim an der Bar sitzt und sich was zu trinken mixt.
Und plötzlich … die Farben im Glas … das paßt absolut zu dem, was mir gerade wieder und wieder durch den Kopf huscht.
Dieser Eingebung folgend, springe ich auf.
Mitkommen!“, sage ich zu Martha und nehme ihr das Glas aus der Hand.
Sie ist verwundert, vielleicht erwartet sie eine weitere Standpauke.
Aber sie steht auf und so schiebe ich sie ungeduldig Richtung Ausgang.
Sie will mir helfen, sagte sie vorhin. Nun, jetzt kann sie das.

*******

Kurz darauf wühle ich im Lager nach dem passenden Stoff.
Martha wundert sich. „Und was soll das jetzt?“
Ich brauch noch ein Ding … ein Kleid.“
Aber ich … dachte, daß bei dem Shooting nichts Neues präsentiert wird?“
Jetzt doch.“
Aber Rebecca hat auch überhaupt nichts.“
Ja, und?
Ich kann doch meine Ideen nicht ein- und ausschalten wie das Licht.
Da ist was in meinem Kopf und das will raus, will umgesetzt werden.
Ich lasse mich durch Marthas Einwände nicht beirren, ziehe sie zu mir runter und meine: „Ich hab dich vorhin gesehen. Diese zwei Säfte, die du zusammengemischt hast, das ist der Farbverlauf, den such ich.“
Okay.“
Ich glaub, sie zweifelt gerade ein wenig an meinem Verstand, aber das macht nichts. Das tue ich auch manchmal.
Wenn ich eine Idee habe, dann muß sie raus. - Ah!“ Ich habe gefunden, was ich suchte. „Das ist es.“
Ich laufe Martha voraus zu meinem Platz.
Und jetzt?“, will sie wissen.
Ich schiebe alles auf meinem Tisch beiseite. „Machen wir was Neues.“, beantworte ich ihre Frage.

Es ist großartig.
Wir arbeiten phantastisch zusammen, brauchen kaum Worte, um uns zu verständigen.
Martha weiß einfach, was ich will.
Bald schon sind wir vollgekleckert mit gelbem und rotem Färbemittel, aber wir haben einen Riesenspaß.
Dann ist es vollendet und es ist absolut geil geworden.
Wir zwei Hübschen stoßen mit Bananen- und Kirschsaft an und sind rundum zufrieden.
Übermütig kippt Martha noch ein Schluck Kirsche auf's Kleid.
Ich muß lachen; es gefällt mir, wie locker sie drauf ist. Und Martha lacht mit.

*******

Es ist schon fast Tag, als ich zuhause ankomme.
Ich trinke mir noch ein, zwei Sljivovic, um runterzukommen, dann nur noch Klamotten aus und rein ins Bett.
Schwere Schritte … Weinen … Schreie …
Sie brauchen mich.
Ich darf nicht einfach nur zusehen.
Nichts tun.
Ich darf sie nicht im Stich lassen.
Sie brauchen mich.
Ich stürme hinaus, mitten unter sie.
Einer packt mich von hinten.
Aber ich werfe mich blitzartig herum und packe ihn bei der Kehle.
Du verdammter Bastard, du wirst ihnen kein Leid antun!
Ich halte ihn eisern fest und schreie ihm meine Verachtung ins Gesicht.
Er wehrt sich nicht.
Starrt mich nur angstvoll an.

4305
Ich fühle keinen Triumph über meine Überlegenheit.
Irgendetwas ist seltsam …
Ich schließe und öffne die Augen rasch hintereinander.
Ich kenne das Gesicht.
Martha?
MARTHA !!!
Verdammte Scheiße! Was machst du hier? Wie bist du hier reingekommen?“
Noch reichlich geschockt erklärt sie mir, daß alle wegen des Shootings auf mich warten und sie mich nicht erreichen konnte.
Verdammt ja, das Shooting!
Ich sage ihr, sie soll ein Taxi rufen und unten auf mich warten.
Hastig ziehe ich mich an.
Meine Hände zittern.
Ich hätte Martha beinahe erwürgt …
Ich sehe wieder ihr Gesicht vor mir und weiß, daß sie eine Scheiß-Angst hatte.
Verdammt, was mußte sie hier auftauchen?
Sicher, sie konnte ja nicht wissen, wie ich reagiere, wenn man mich einfach so im Schlaf anpackt.
Sie konnte nichts wissen von dem ebenso schrecklichen wie fatalen Alptraum.
Wie soll ich ihr erklären …?
Scheiße! Ausgerechnet sie …

*******

Dann stehen wir unten und warten auf das Taxi.
Es herrscht Schweigen.
Von meiner Seite ist es ein betretenes Schweigen.
Ich weiß, ich müßte etwas sagen, ihr etwas erklären.
Aber das Entsetzen über das, was passiert ist, schnürt mir die Kehle zu.
Zudem bin ich eh nicht der Typ, der gut im Entschuldigen ist.
Oder irgendwas zu erklären.
Ich weiß nicht, ob ich erleichtert sein soll, daß sie mir keine Fragen stellt.
Und ich hoffe, sie deutet mein Schweigen nicht so, als würde es mir am Arsch vorbei gehen, mal eben so eine Arbeitskollegin zu würgen.
Wo bleibt 'n das Taxi?“, fragt sie und ich frage mich, ob ihr unbehaglich in meiner Nähe ist.
Wir fahren zuerst ins Büro und holen die Sachen.“
Meine Stimme klingt völlig unbeteiligt, so als ob nichts geschehen wäre.
Die Kleider sind schon auf dem Schloß. Inclusive dem neuen Kleid.“
Ich sehe sie an, weiß, daß ich mich wenigstens dafür bedanken sollte.
Und sage nichts.
Dann ist das Taxi da und schweigend setze ich mich in den Fond.
Ich habe eine hohe Mauer um mich herum hochgezogen.

*******

Dann sind wir auf dem Schloß und die Arbeit lenkt mich ab.
Ich komme vorübergehend wieder ins Gleichgewicht; bin wieder in meinem Element.
Und obwohl wir spät dran sind, läuft alles wie am Schnürchen.
Martha arbeitet zuverlässig und akkurat wie immer.
Sie ist absolut professionell.
Nur einen Moment lang habe ich das Gefühl, daß sie an die Sache denkt.
Alles klar?“, frage ich.
Ja.“
Irgendwas sagt mir, daß doch nicht alles klar ist.

*******

Dann ist das Shooting im Gange und ich sorge dafür, daß Action in die Bilder kommt. Immerhin soll das hier ein Kampf sein.
Rebecca stachelt ihr Model an, sich von meinem nicht unterkriegen zu lassen.
Gut so.
Die Rotfeld will mein Kleid im Vordergrund haben.
Wie haben Sie es geschafft, in so kurzer Zeit ein so aussagekräftiges Kleid zu zaubern?“
Ich blicke zu Rebecca, obwohl ich weiß, daß Martha hinter mir steht.
Ein gutes Team.“, antworte ich.
Die Rotfeld blickt zu Martha; sie hat genau mitbekommen, wer mir bei den Vorbereitungen geholfen hat.
Eine gute Assistentin ist nicht mit Gold aufzuwiegen.“
Ich bin nicht seine Assistentin!“, höre ich Martha sagen.
Meine ich das nur, oder klingt das bitter enttäuscht?

*******

Als wir fertig sind mit dem Shooting, haue ich ab.
Ich muß raus, mich draußen auspowern.
Das hat mir immer schon geholfen.
Aber es will mir nicht gelingen, die Bilder aus dem Kopf zu bekommen.
Bilder davon, wie ich Martha würge …
Es ist furchtbar.

*******

Dann sind wir wieder bei LCL.
Ich sehe Martha mit ihren Kolleginnen sitzen.
Wie es scheint, erzählt sie ihnen brühwarm, was heute Morgen in meinem Loft passiert ist.
Daß sie sich nach Aufmerksamkeit sehnt, okay. Soll sie stolz rumerzählen, wie sie am Shooting mitgewirkt hat. Aber das … das geht gar nicht!
Der Ärger kocht in mir hoch wie heiße Milch.
Martha? Kommst du mal bitte?“
Ich will unter vier Augen mit ihr reden.
''Das mit heute Morgen, das ist eine Sache. Aber daß du jetzt jedem davon erzählst … ich hätte das nicht von dir erwartet!''
''Was? Aber ...''
''Ja, komm, ist gut! Laß! … Verschwinde!''
Ich bin wirklich tief enttäuscht.
Ich mag sie.
Und unsere Zusammenarbeit versprach viel Gutes.
Aber ich mag niemanden um mich haben, der mit solchen Sachen hausieren geht.
Martha ist sichtlich geknickt und geht zur Tür.
Dann jedoch wendet sie sich wieder zu mir.
''Damit du es weißt – ich ... ich hab das niemandem erzählt. Die Mädels wollten nur wissen, wie du auf die Idee mit dem Kleid gekommen bist ... und als du nicht beim Shooting aufgetaucht bist ... da dachte ich ... unsere ganze Arbeit ist dahin. Deshalb bin ich zu dir nach Hause gefahren, weil ich dir helfen wollte! Und als du mich dann gewürgt hast … da hatte ich Angst! … Verstehst du das? Ich hatte Angst!“
Ja, das verstehe ich.
Sehr gut sogar.
Ich schaffe es nicht, ihr ins Gesicht zu sehen.
Ich fühle mich mies. Und zu Recht.
... Und anstatt dich zu entschuldigen, machst du mir jetzt Vorwürfe. ... Du sagst, du hättest mehr von mir erwartet ... ganz ehrlich ... ich auch von dir!“
Damit ist sie raus aus der Tür.
Und läßt mich in einem Bad verschiedener Gefühle sitzen. Allen ist gemein, daß sie sehr unangenehm sind.
Ich Idiot! Ich gedankenloser Mistkerl!
Doch, Juri, diese Ansage hattest du verdient. Eine reinhauen hätte sie dir sollen.
Noch nicht schlimm genug, daß du sie gewürgt und ihr damit eine Scheißangst gemacht hast.
Nein, du unterstellst ihr, IHR, daß sie die Sache ausgeplaudert hat, um sich wichtig zu machen.
Statt dich zu entschuldigen, ihr zu sagen, daß es dir leid tut.
Wie konnte ich nur so von ihr denken? Ich hätte es besser wissen müssen.
Ich wünschte, sie hätte mir eine reingehauen. Das hätte nicht so wehgetan wie ihre Worte …
Das ist es, was mir durch den Kopf geht und mich nicht mehr losläßt.

Es wird auch nicht gerade besser, als ich mitbekomme, daß das Kleid, zu dem mich Martha inspiriert hat, an dessen Erschaffung sie maßgeblichen Anteil hat, auf dem Cover gelandet ist.
Diesen Erfolg verdanke ich ihr.
Und das verstärkt meine Schuldgefühle, mein schlechtes Gewissen noch.
Gegenüber Rebecca lasse ich mir freilich nichts anmerken.
Sie hält mir eine Rede über Abmachungen und Regeln und dafür hab ich jetzt echt nicht die Nerven.
Als sie meint, ich würde auf jeden scheißen, weil es mir nämlich immer nur um mich ginge, fühle ich mich getroffen.
Martha.
Ich denke über den gestrigen Abend nach. Wie gut wir zusammengearbeitet haben. Wieviel Spaß wir hatten.
Sie ist gut. Sie ist wirklich gut. Sie hat Talent und das richtige Gespür. Sie ist engagiert und ich weiß, es würde ihr viel bedeuten, meine Assistentin zu werden. Okay, sie ist etwas übereifrig. Tollpatschig. Aber sie wird ja nicht jeden Tag mit Bügeleisen nach mir werfen. Mal im Ernst, Juri, ohne sie hättest du das Shooting glatt verpennt und die ganze Arbeit wäre für die Katz gewesen.
Ihr war das nicht egal. Die Arbeit war ihr nicht egal. Du warst ihr nicht egal.
Sie hat sich für dich und deine Arbeit eingesetzt.
Gib ihr, gib eurer Zusammenarbeit eine Chance.
Los, Junge, sei nicht immer so stur …

*******

Dann stehe ich vor ihr.
Sie räumt ihre persönlichen Sachen in einen Karton.
Du hast deine Sachen gepackt?“
Will sie gehen? Meinetwegen?
Vorhin … da hast du was gesagt …“
Daß ich mich nicht mal entschuldigt hätte.
Sorry.“
Es klingt schlicht, aber ich meine es ernst.
Sie nickt leicht. Sie scheint meine dürftig klingende Entschuldigung zu akzeptieren.
Ich ziehe den Ausdruck des Covers mit meinem, unserem Kleid hervor.
Ich hätte das ohne dich nicht hingekriegt.“
Sie lächelt leicht.
Und dann gebe ich mir einen Ruck.
Okay! Nimm deine Sachen und komm mit!“
Was? Wohin?“
Na, rüber. Du bist meine neue Assistentin.“
Erleichtert, es hinter mir zu haben, bin ich schon halb zur Tür raus.
''Halt! Warum gibt's du mir jetzt den Job? Du brauchst doch niemanden? Wenn du Mitleid mit mir hast, das brauch ich nicht! Ich brauch den Job nicht!''
Martha! So ist es nicht!
Wenn ich mich nur erklären könnte …
Ich könnte schreien; diese Situation ist der Horror für mich.
Ich und Gefühle zeigen … pffft!
Juri, du verdammter Feigling, mach jetzt bloß keinen Rückzieher, weil sie es dir nicht ganz so einfach macht.
Du hast es gar nicht anders verdient.
''Ich brauch dich ... weil du gut bist!'', quetsche ich mir raus.
Das ist kaum die ganze Wahrheit, aber alles, wozu ich fähig bin.

*******

Meine neue, meine erste Assistentin stellt Bedingungen.
''Ich will meinen Platz in der Nähabteilung behalten.''
''Ich brauch dich aber hier!''
''Du bist doch eh fast nie da, oder?''
''Darum geht's nicht!''
''Du bist eine ganze Zeit lang ohne mich ausgekommen, die paar Schritte werden doch jetzt kein Problem sein, oder?''
Ihr selbstbewußtes, forsches Auftreten amüsiert mich irgendwie.
So redet selten einer mit mir.
''Noch irgendwelche Bedingungen?''

Dann kommt sie auf heute Morgen zu sprechen.
Mir bricht sofort der Schweiß aus.
''Also das mit dem Einbruch, das ... das tut mir Leid! Ich wußte nicht, daß so was überhaupt funktioniert. ... Ich hab so was ja bisher nur in Fernsehfilmen gesehen und da war es bei dir auch echt genauso einfach. Du solltest wirklich dein Schloß mal auswechseln; es ... es tut mir leid. Ehrlich, ich hab so was noch nie gemacht und ich werd‘ so was auch nie wieder machen!''
Ich bin erleichtert, daß sie sich nur für ihr Eindringen entschuldigen wollte und keine Erklärung für mein aggressives Verhalten fordert.
''Du musst dich nicht entschuldigen.“
Aber ich fühle irgendwie den Drang zu einer Entschuldigung.
Es muß sein.
Ich bin ihr das schuldig.
Langsam gehe ich um meinen Tisch herum auf sie zu.
''Martha! Das heute Morgen ... ich wollte das nicht. ... Du hast mich aufgeweckt ... du hast mich erschrocken, ich meine, niemand weckt mich so auf. ... Ich hab einfach ... ich hatte in meinem Leben einfach ein paar extreme Situationen.“
''Extreme Situationen?“
''Ich will nicht drüber reden!“
Ich stehe jetzt dicht vor ihr.
Aber ich will, daß du mir glaubst: - Ich würde dir niemals wehtun!''
Ich möchte sie sanft bei den Schultern nehmen, aber ich bringe es nicht über mich.
Aber ich hoffe sehr, daß sie mir trotzdem glaubt.
Es ist mir sehr wichtig, daß sie das weiß.

4309
Ich werde noch irre!
Wie besessen stelle ich mein ohnehin schon chaotisches Loft auf den Kopf, nehme jeden Fetzen, jedes Ding in die Hand auf der Suche nach dem, was mir gerade im Kopf herumspukt.
Ich weiß, daß es das ist in dem Moment, wo ich es gefunden habe.
Aber ich finde es einfach nicht.
Ich hab das Bild genau im Kopf …
Ah, Moment!
Das …? Yep!
Nun brauche ich Martha.
Schnell ziehe ich mich an und bin kurz darauf bei LCL.

*******

Ich finde sie im Nähzimmer.
Martha!“ Ich winke sie her zu mir,
Moment! Nicht so schnell. Warst du schon bei Ansgar? Er hat dir letzte Nacht auf die Mailbox gesprochen.“
Was will Rebecca denn von mir?
Ich zucke mit den Schultern, weil ich keine Ahnung habe, wovon sie spricht.
Kann ja nicht so wichtig sein.“
Doch, allerdings. Es geht um deine glorreiche Idee, Martha, meine beste Näherin abzuwerben.“
Hol dir 'ne Neue.“ Sollte doch wirklich kein Problem sein. Martha ist echt zu schade, um nur zu nähen. Sie hat viel mehr drauf.
Hey, Finger weg von meinen Leuten. Vielleicht ist dir die Show egal, ja, aber ich hab mir hier ein Team zusammengestellt und wir arbeiten auf Hochtouren. Da kannst du nicht einfach jemanden abziehen.“
Ich sage nichts, denke mir nur mein Teil.
Das ist so typisch für so 'nen Riesenkonzern. Total unflexibel.
Ich weiß, du hältst dich ungern an Regeln, deshalb muß ich es tun. Ich werde Martha vor der Modenschau nicht aus ihrem Vertrag lassen. Und Ansgar stimmt mir zu.“
Wie eine Raubkatze vor dem Sprung funkelt sie mich an; nicht nur ihre Stimme klingt angriffslustig.
Wart's ab.“, meine ich nur und lasse sie stehen.

*******

Ein paar Minuten später stehe ich beim Herrn Grafen im Büro.
Um meine Kollektion geht es ihm.
Er traut mir nicht.
Hat Angst, daß ich es versemmele.
Er ist nicht damit zufrieden, daß meine Kollektion nur in meinem Kopf existiert.
Ich halte ihn für den sichersten Ort.
Da drin ist es so chaotisch wie in meinem Loft.
Paßt perfekt.
Und tatsächlich habe ich alle Entwürfe komplett.
Die Modelle könnten sofort produziert werden, wenn ich wollte.
Aber der Graf kommt mir dumm.
Wir hatten eine Abmachung. Sie lassen mich arbeiten, wie ich arbeite und kümmern sich selber um Ihre Zahlen.“
Doch er meint, er muß Druck machen, mir zeigen, daß er hier der Chef ist und ich zu spuren habe, weil er mich dafür bezahlt.
Er verlangt von mir, daß ich meine Arbeitszeit künftig hier bei LCL verbringe. Und eine erfolgreiche Kollektion.
Letztere hätte er haben können.
Aber nicht so.
Ich lasse mich nicht unter Druck setzen.
Von so einem Lackaffen schon gar nicht.
Und schon bin ich zur Tür raus.
Sie können jetzt hier nicht einfach abhauen!“
Und wie ich das kann.

*******

Ich verpisse mich ins No Limits.
Bin ein wenig unschlüssig, was ich machen soll.
LCL ist schon eine große Chance. So ein Label bietet mir einfach ganz andere Möglichkeiten, als ich sie allein hätte.
Aber in mir sträubt sich alles dagegen, nachzugeben, mich anzupassen.
Es ist nicht nur mein Stolz, der sich dagegen wehrt.
Ich fürchte wirklich um meine Kreativität, die leiden wird, wenn ich nicht die Freiheit habe, zu tun und zu lassen, was ich will.
Ganz unerwartet steht auf einmal Martha neben mir.
Was machst du hier?“
Auf irgendwelche Diskussionen hab ich grad so gar keinen Bock.
Sie will wissen, was Ansgar gesagt hat.
Sie ist ganz außer Puste, weil sie mir nachgerannt ist, wie sie selbst sagt.
Du solltest Sport machen.“, meine ich. Eine bessere Kondition wäre in ihrem Job nicht schlecht.
Ich bezweifle, daß er das gesagt hat.“, weicht sie aus.
Nein, eigentlich bin ich ausgewichen.
Ob wir uns geeinigt hätten?
''Ich arbeite entweder unter meinen Bedingungen oder ich arbeite gar nicht.“
''Soll das heißen ... du schmeißt hin? Das läßt du mal schön bleiben!“
Mein Kopf fährt zu ihr herum. Was hat sie da gerade gesagt?
Du willst bei der Show erfolgreich sein und deine Entwürfe zeigen und das vor der ganzen Welt, aber dazu brauchst du Presse, Werbung, Kontakte und das kannst du nicht einfach in deiner alten Hinterhofklitsche schaffen, sondern dazu brauchst du eine Firma wie LCL. Dazu mußt du dich bitte endlich an ein paar Regeln halten und nicht überall Chaos verbreiten. Vorhin zum Beispiel - Rebecca wollte, daß ich ihr etwas nähe, weil sie noch nicht wußte, daß du mich zu deiner Assistentin gemacht hast. Wenn ich aber deine Assistentin bin und ich weiß immer noch nicht, ob ich‘s wirklich bin, dann ... dann fehlt eine Näherin und der ganze Prozeß gerät ins Stocken. Das ist der Grund, warum du überall Chaos verbreitest, weil du mit niemandem kommunizierst."
''Pfft ... ich laß mir doch nicht von einer Näherin sagen, was ich ...''
Sag mal, Juri, hast du sie noch alle? Benimmst dich Martha gegenüber wie ein arrogantes, überhebliches Arschloch?
Anscheinend lasse ich meinen Frust an ihr aus.
Was absolut nicht okay ist.
Und abgesehen davon hat sie Recht.
Ich sehe zu ihr hoch und mir tut wirklich leid, was ich da grade gesagt habe. Ich habe sie verletzt, das ist nicht zu übersehen.
''Ich dachte, ich wär deine Assistentin! Ich hab jede Deadline, jeden Produktionsablauf hier in meinem Kopf; ich weiß, wer wann wo was braucht, damit deine Entwürfe in zwei Wochen über den Laufsteg gehen ... aber dazu mußt du mich endlich offiziell zu deiner Assistentin machen!''
Ich starre sie an … und haue ab, lasse sie einfach stehen.
Nicht, weil ich sauer auf sie bin.
Freilich, ich bin es nicht gewohnt, daß man so mit mir spricht.
Normal gebe ich sofort Kontra.
Aber bei Martha ist das anders.
Ich weiß nicht, wie sie es schafft, daß sie mich immer wieder zum Nachdenken bringt.
Nicht zuletzt denke ich darüber nach, was ich alles verliere, wenn ich hinschmeiße, wie Martha so schön sagte.
Sie hat mir klargemacht, daß ich mich gewissen … Regeln nicht entziehen kann. Was aber nicht bedeutet, mich dafür komplett zu verbiegen.
Ich will diesen Job.
Und ich will Martha als meine Assistentin.
Dann sollte ich mich aber auch dafür einsetzen.
Und genau das werde ich jetzt tun.

*******

Ich treffe Graf Ansgar auf dem Klo.
Sage ihm, daß ich meine Kollektion machen und in zwei Wochen bei der Show dabei sein würde.
Ich kenn Typen wie Sie, Adam. Genial, aber unzuverlässig. Eigentlich sind Sie ein unkalkulierbares Risiko.“
Du glaubst gar nicht, wie egal es mir ist, was du von mir denkst.
Aber was soll's, ich bin ein Spieler. Und irgendwas sagt mir, daß Sie's drauf haben.“
Schon besser.
Ich seh Sie dann in meinem Büro.“
Und da liegst du wieder falsch.
Wenn ich was mache, dann nur unter meinen Bedingungen. Ich arbeite, wo, wie und wann ich will. Und Sie reden mir da nicht rein.“
Ebenso genervt wie resigniert nickt er. „Wenn's alles ist ...“
Diese Runde geht an mich.
Eine Sache noch!“
Und jetzt gibst du mir Martha, mein Lieber.
Zwanzig Minuten später halte ich Marthas neuen Arbeitsvertrag in meinen Händen.

*******

So leidenschaftlich wie Martha sich für ihre, für unsere gemeinsame Arbeit engagiert hat, freue ich mich richtig darauf, ihr die gute Nachricht sofort zu bringen.
Lächelnd erscheine ich bei ihr. „Laß alles liegen. Du hast 'nen neuen Job.“
Rebecca mag es freilich nicht glauben und muß es schwarz auf weiß lesen.
Ersatz ist unterwegs.“, beruhige ich sie. Sie wird nicht vor der Show ohne Näherin dastehen.
Trotzdem kann ich es mir nicht verkneifen, sie frech anzugrinsen.
"Martha gehört ab jetzt zu mir."

4310
Martha und ich sind draußen unterwegs, Ideen sammeln. Bewegung an der frischen Luft pustet den Kopf durch, so kann ich am besten arbeiten.
Grade fällt mir was ein und ich packe Martha von hinten bei den Schultern.
Ich merke sofort, daß was nicht stimmt.
Wie es aussieht, hat sie meine unerwartete Berührung an meinen Angriff erinnert.
Und da spricht sie es auch schon an.
"Martha, bitte!"
Mir wird flau, ich will nicht darüber reden.
Aber sie bittet mich nur, mich nie wieder so an sie ranzuschleichen.
Das verspreche ich gern; es tut mir leid, sie schon wieder geängstigt zu haben.
Um von diesem Thema wegzukommen, konzentriere ich mich wieder auf die Arbeit.
Paß auf, diese Military-Sache, ja? Das ist irgendwie nicht das Richtige. Was ich suche, ist was anderes … 'ne Mischung aus … aus sexy und androgyn. Mehr Punk.“
Punk? Fell, Federn … Nieten! Cool.“
Ja, aber die Nieten sind Patronenhülsen. Leere Patronenhülsen.“
Nun, wo Martha wieder in ihrem Element ist, ist sie wieder entspannt und gut drauf.
Das mit den Patronenhülsen notiert sie gleich begeistert.
Ich starre sie versonnen an, während sie in ihr Notizbuch kritzelt.
Sie ist schon 'ne Süße, so auf ihre Weise.

*******

Es ist kalt. Ich setze mich dicht neben Martha, lege locker meinen Arm um sie.
Und widme mich vertrackten Details.
Dieser Kragen langweilt mich.“
Wie wär's mit einem roten Schottenmuster?“
Hab ich so skeptisch geguckt, oder warum entschuldigt sie sich, als ob sie was unheimlich Dämliches gesagt hätte?
Ich fordere sie auf, ihre Ideen weiter sprudeln zu lassen; da kommt sicher noch was.
Und eigentlich hat sie es schon – Rot! Das ist es doch.
Aber nicht irgendein Rot.
Wir brauchen einen Rotton. Wir brauchen ein grausames Rot. Etwas Gewaltiges, Blutrünstiges, verstehst du?“
Natürlich versteht sie mich.
Wir diskutieren, ich skizziere, sie notiert … und wir albern rum, lachen und haben mal wieder richtig Spaß.
So mag ich das, deswegen wollte ich sie.
Weil die Arbeit mit ihr nicht nur gute Früchte trägt, sondern eben auch Spaß macht.
Dann ruft ihre Tante an, es geht um ein Paket, das Martha für sie abholen soll.
Für Martha geht natürlich die Arbeit vor, aber ich sage ihr, daß wir das Paket holen könnten, weil ich eh noch Bewegung brauche.
Sag mal, das mußt du nicht machen. Also, das ist echt total nett, aber … das ist halt auch Familie. Du weißt schon … total nett … aber eben Familie.“
Jetzt machst du mich richtig neugierig.“

*******

Dann sind wir bei ihr zuhause.
Ihre Tante begrüßt mich freundlich.
Martha will gleich wieder los, sie ist schon an der Tür, als ihr Onkel nach Hause kommt.
Er bringt eine Kettensäge mit, die gleich meine Blicke auf sich zieht.
Während Marthas Tante mich ihrem Mann vorstellt, sehe ich mir das Werkzeug, das wohl Mucken hat, an.
Martha winkt mir zu, aber ich hab's nicht eilig.
Ich kenn mich ein bisschen mit Kettensägen aus, frage Marthas Onkel, wie alt das Schwert sei und ob er Werkzeug habe.
Er wundert sich, woher ich mich auskenne.
Für eine meiner Shows haben die Models auf dem Laufsteg Schweinehälften zersägt, erzähle ich ihm.
Er findet das cool.
Und Martha grinst sich einen.

*******

Bald schon sind Thomas und ich emsig damit beschäftigt, das Maschinchen wieder ans Laufen zu kriegen.
Ich dachte immer, wichtige Leute mit englischen Jobs machen sich die Finger nicht schmutzig. … Warum bist'n du eigentlich Designer geworden? Stehst du auf diesen ganzen Schicki-Micki da? Also, die paar Male, die ich bei LCL war, dachte ich immer, ich bin im falschen Film. Wie die da alle rumlaufen! Also, wer die Klamotten trägt, der hat doch nicht alle Latten mehr am Zaun.“
Der Mann gefällt mir.
Bist du mit denen etwa auf einer Wellenlänge?“
Na ja, ich mach auch Mode. Aber ich hab 'nen anderen Ansatz. Mir ist die Haltung wichtig zu den Sachen, die du auf der Straße siehst. … Also, die Dekadenz der Gesellschaft, Ausgrenzung von anderen Menschen. Oder die Verschwendung von Ressourcen. Deswegen arbeite ich zum Beispiel mit Materialien wie Plastik, Metall oder Holz.“
Beim Wort Holz wird der Förster hellhörig.
Am liebsten wäre er wohl gleich mit mir in den Wald gegangen.
Aber Martha winkt schnell ab.
Reicht ihrem Onkel das Öl, um das er sie bittet.
Und ich kleckere es ihr über die Klamotten.
Oh, sorry.“
Ihre Tollpatschigkeit wird doch nicht ansteckend sein?

*******

Eine Weile später sind wir fertig, die Maschine läuft.
Ich suche Martha.
Und finde sie in ihrem Zimmer.
Alles okay?“
Sie nickt.
Kein Wunder, daß du so gute Ideen hast. Kannst jeden Tag mit deinem Onkel über Bäume und Motorsägen reden.“
Nette Leute.“, meine ich dann, weil mir ihre Familie wirklich sympathisch ist.
Ja. … Na ja, du hast ja wahrscheinlich auch irgendwo Familie.“
Meine Eltern leben nicht mehr.“, erkläre ich.
Oh … das … das tut mir leid … das wußt' ich nicht.“
Ist okay.“
Und sind sie schon lange …?“
Ich rede nicht drüber.“
Ich wünschte, ich wäre nicht auf Familie zu sprechen gekommen.
Diese Unterhaltung nimmt eine sehr unangenehme, schmerzliche Wendung.
Klar. Kannst du aber, wenn du willst.“
"Du bist meine Assistentin, nicht meine Therapeutin."
Ja. Klar.“ Sie nickt, zwingt sich zu einem Lächeln.
Ich hab sie gekränkt, ganz klar.
Warum bin ich so abweisend zu ihr? Sie meint es nur gut. Sie kann nicht wissen, daß ich darüber nicht reden will, nicht reden kann.
Aber ich mache aus Reflex einfach zu.

*******

Ich stehe aus Marthas Sessel auf und gehe langsam zur Tür.
Es herrscht ein beklommenes Schweigen.
Juri ... es tut mir leid. Also, daß ich eben … dich über deine Familie ausgefragt habe, obwohl du überhaupt nicht darüber reden willst. Ich … ich weiß das. Aber mir hilft reden, deswegen dacht' ich … hach, jetzt mach ich das schon wieder … ich laber dich voll, obwohl du überhaupt keinen Bock drauf hast … das ist … es tut mir total leid!“
Hör doch mal auf, dich ständig zu entschuldigen.“
Aber ...“
Laß es einfach!“
Was?“
Sie versteht mich nicht. Aber ich weiß, warum.
Du versuchst, immer alles so perfekt zu machen. Ich bin der Meinung, man sollte sich mindestens einmal im Monat so richtig schön blamieren.“
Da komm ich locker drüber. … Was ist so toll daran, wenn man von einem Fettnapf in den nächsten latscht?“
Berechtigte Frage.
Das ermöglicht die Kreativität. … Was ist unser größter Feind? … Perfektion. Das Perfekte tötet alles.“
Unperfekt kann ich.“, strahlt sie.
Bist du auf meiner Seite?“
Sie nickt.
Fein.
Sie soll einfach so bleiben, wie sie ist. So ist sie gerade richtig für mich.

*******

Dann trennen wir uns.
Martha geht zu LCL, um meine Entwürfe in die Tat umzusetzen.
Ich laufe noch ein wenig draußen rum und geh dann auf einen Sprung ins No Limits.
Dort treffe ich eines unserer Models und wir werden gleich warm miteinander. Ziemlich warm.
Ich rufe Martha an und frage sie, ob sie mir meine Entwürfe zuhause vorbei bringen kann. Ein Zweitschlüssel für meine Wohnung läge auf meinem Tisch. Und ob sie vielleicht noch eine Flasche Champagner besorgen könne.
Natürlich macht sie das, die Gute.
Und weil ich mich auf Martha, meinen guten Geist, verlassen kann, hab ich den Kopf frei für andere Dinge.
Mich von der Kleinen hier scharf machen zu lassen, zum Beispiel.

*******

Dann sind wir bei mir zuhause.
Die Kleine ist echt heiß.
Und sieht in ihrem knappen, luftigen Kleidchen zum Anbeißen aus.
Wir halten uns nicht lange mit Förmlichkeiten auf.
Ziehen uns lieber gleich auf's Bett zurück.
Zeit für ein Schlückchen muß sein.
Aber dann sind wir auch schon halb ausgezogen und küssen uns leidenschaftlich.
Gerade will ich mich anschicken, ihren schönen Körper von oben bis unten mit meinen Lippen zu erforschen, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung bemerke.
Eine Person kraucht zur Tür.
Martha? Was genau machst du da?“